Düsseldorf Der neue Marx und sein Kapital

Düsseldorf · Das Buch "Das Kapital im 21. Jahrhundert" des Franzosen Thomas Piketty ist ein überraschender Bestseller. Es geht darin um die Gründe für Ungleichheit im Kapitalismus. Nun wird der Vorwurf laut, Piketty argumentiere fehlerhaft.

Der umstrittenste Bestseller des Jahres ist ein Wirtschaftsbuch, und geschrieben hat es der französische Wirtschaftsprofessor Thomas Piketty. "Das Kapital im 21. Jahrhundert" heißt der rund 700 Seiten dicke Band in Anlehnung an Karl Marx. Das französische Original erschien bereits im vergangenen Jahr und erregte wenig Aufsehen. Aber seit im März die amerikanische Übersetzung ausgeliefert wurde, macht das Buch in Übersee Furore: Fast 400 000 Mal hat es sich verkauft, was für ein Fachbuch sensationell ist. Nahezu täglich berichten US-Zeitungen über den 43 Jahre alten "Meisterdenker" ("New York Times") und sein Werk - zunächst bewundernd, dann zunehmend zornig und im Feuilleton ebenso wie im Wirtschaftsteil. Die Reaktionen auf Pikettys Ausführungen sind inzwischen mindestens ebenso faszinierend wie das Buch selbst.

Worum geht es? Piketty zerstört den Mythos vom amerikanischen Traum, wonach es jeder an die Spitze schaffen kann, solange er sich anstrengt. Er erzählt auf stilistisch bemerkenswerte Weise 200 Jahre Wirtschaftsgeschichte und blickt weit hinaus ins 21. Jahrhundert. Seine These: Der Anteil des ererbten Reichtums nimmt im Gegensatz zum erarbeiteten immer mehr zu. Die Erträge aus der Anlage von Kapital liegen über dem Arbeitslohn. Diese Entwicklung erschüttere die Demokratie, die auf lange Sicht - und zwar zuerst in Europa und Japan, dann in Amerika - durch eine "Erbengesellschaft" ersetzt werde. Fazit: Wer nicht erbt, hat mit ehrlicher Arbeit keine Chance.

Piketty nennt dies den zentralen Widerspruch des Kapitalismus, und er bringt ihn auf eine Formel: Die Kapitalrendite (r) sei unter normalen Umständen immer höher als die Wachstumsrate (g) des Bruttoinlandsprodukts, es gelte also r > g. Deshalb wachse der Anteil der Vermögen im Verhältnis zur Wirtschaftsleistung immer weiter. Wer dieses Gesetz brechen wolle, schaffe das allein durch Steuererhöhungen, die Wohlhabende treffen würden. Piketty schlägt vor, Einkommen jenseits von 500 000 oder einer Million Dollar mit 80 Prozent zu besteuern. Einkommen über 200 000 Dollar sollten mit 50 bis 60 Prozent besteuert werden und nicht wie bislang in den USA mit 35 Prozent. Zusätzlich müssten international konfiskatorische Vermögensabgaben von ein bis zwei Prozent auf Kapitalbesitz über fünf Millionen Dollar erhoben werden. Nur so könne man die Abgaben von Kleinverdienern senken sowie langfristig die irrwitzig hohen Spitzengehälter reduzieren.

In Amerika hat Pikettys Buch so viel Resonanz, weil man dort besonders engagiert über die Gründe der augenfälligen Ungleichheit diskutiert. Nobelpreisträger Paul Krugman bezeichnete das Buch in seinem viel gelesenen Blog für die "New York Times" als prägend für das Jahrzehnt, es sei eine "intellektuelle Sensation". Der Volkswirtschaftler aus Princeton verglich Piketty gar mit Denkern wie Susan Sontag und Francis Fukuyama, das "New York Magazine" schwärmte vom "Rockstar der Wirtschaft". US-Finanzminister Jacob Lew empfing Piketty zur Audienz, Piketty sprach außerdem vor dem Internationalen Währungsfonds und Obamas Rat der Wirtschaftsberater.

Piketty ist Mitglied der sozialistischen Partei Frankreichs, er lehrt Wirtschaft an der Ecole d'Economie in Paris. Er kann elegant und emotional schreiben, knüpft Verbindungen von den Romanen Balzacs zu zeitgenössischen Steuerstatistiken und hört es nicht ungern, wenn er der neue Karl Marx genannt wird. Die 600 Seiten Fließtext hält er frei von lästigem Zahlenwerk, rundet sie aber mit einem 80-Seiten-Anhang aus Tabellen und Statistiken ab, und genau dort setzt nun die Kritik der Wirtschaftsfachleute an.

Die Formel r > g etwa sei ein alter Hut, klagt zum Beispiel Hans-Werner Sinn, Präsident des Ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung. Sie kennzeichne eine Grundannahme der Wachstumstheorie. Und sie gelte nur, wenn die Vermögensbesitzer ihre Erträge vollständig reinvestieren, also nichts für den Konsum ausgeben, nichts spenden und auch keine Steuern zahlen, gibt der Finanzwissenschaftler Stefan Homburg von der Universität Hannover zu bedenken. Außerdem interpretiere Piketty seine Zahlen falsch. Denn während der vergangenen hundert Jahre sei ausweislich seiner Angaben der Einkommensanteil, der auf das reichste Prozent der Einkommensbezieher entfällt, in Deutschland, Frankreich und Japan beständig gesunken.

Noch schwerer wiegt der Vorwurf, Piekttys Zahlensätze enthielten Fehler. So habe der Autor Daten falsch in Excel-Tabellen übertragen und mit fehlerhaften Formeln gerechnet. Ein Beispiel: Die Jahre 1908 und 1920 seien vertauscht worden, wies die "Financial Times" nach, dadurch stimmten viele Schlussfolgerungen nicht mehr. Pikettys wirtschaftspolitische Empfehlungen seien ohnehin fragwürdig.

Thomas Piketty nahm sofort Stellung: "Ich stehe zu meinen Zahlen und den Schlussfolgerungen daraus", sagte er. Außerdem gebe es andere Untersuchungen, die zu gleichen Ergebnissen kommen. Er bat die "Financial Times", ihre Berechnungen bald im Detail darzulegen und online zu stellen.

Die deutsche Übersetzung des Buches ist für November angekündigt. Aus dem Wirtschaftsbuch ist längst ein Krimi geworden.

(RP)
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