Warschau Der Pianist, der aus der Stille kam

Warschau · Der Pole Rafal Blechacz gewann 2005 den Warschauer Chopin-Wettbewerb. Seitdem hat er sich phänomenal weiterentwickelt.

Im Jahr 2005 gewann der junge polnische Pianist Rafal Blechacz mit Wahnwitz und Methode den Warschauer Chopin-Wettbewerb – und das war tausend Mal mehr als nur ein Heimsieg. Schließlich ging es um ein patriotisches Erbe und den größten Komponisten, den das Land hervorgebracht hat. Blechacz' famoser Landsmann Krystian Zimerman hatte den Chopin-Wettbewerb dreißig Jahre zuvor gewonnen, seitdem siegten Kandidaten aus aller Herren Länder. Es war eine Ödnis. Nun kam Blechacz.

Der schlug seine Gegner nicht einfach nur, indem er die Jury auf seine Seite brachte, mehr noch: Sie wurde beinahe zu seiner Gemeinde. Sie verlieh ihm den ersten Preis und sämtliche vier Spezialpreise, und wie zur Demütigung des gesamten Teilnehmerfeldes vergab sie keinen zweiten Preis. Auffälliger, eindeutiger, gewaltsamer ließen sich Unterschied und Abstand nicht darstellen. Zimerman rief sogleich an, um zu gratulieren, und als sich die beiden Pianisten erstmals trafen, stand am Anfang eine Umarmung.

Seitdem ist Blechacz oft in seiner Hauptrolle als Chopins jüngster Testamentsvollstrecker tätig geworden. Er hat mehrere Kontinente erobert, ein solcher Sieg ist ein Katapult, das einen hoch fliegen lässt. Trotzdem hat der junge Mann sich erstaunliche Bodenhaftung bewahrt, hat seine Herkunft, die Bescheidenheit, nie aus den Augen verloren. Manche Kritiker preisen jetzt schon Blechacz' Diskretion, seine klassizistische Gesinnung.

Aber akademisch beruhigt ist der jetzt 27-Jährige keineswegs. In Wirklichkeit ist er – und das ist das Spektakuläre – ein unerhörter Systematiker. Nach dem Sieg in Warschau nahm ihn die Deutsche Grammophon unter Vertrag, der er zunächst eine sensationelle Aufnahme von Chopins Préludes spendierte. Dann legte er mit Sonaten der Wiener Klassik nach, nahm sodann die beiden Chopin-Konzerte mit dem Concertgebouw Orchestra Amsterdam auf, wofür er den Jahrespreis der Deutschen Schallplattenkritik bekam – und kürzlich hat er Klavierwerke von Claude Debussy und Karol Szymanowski eingespielt. So betreibt der Pianist die Ausweitung der Kampfzone.

Für den Chopin-Wettbewerb hatte Blechacz, der Junge aus dem stillen oberschlesischen Städtchen Nakel, nicht sonderlich trainiert. Er erschien ihm eher wie eine Mautstation, die man notwendigerweise auf dem Weg zum Solistendasein passieren muss. Mit seiner Lehrerin Katarzyna Popowa-Zydron hatte er die Wettbewerbsstücke gewissenhaft präpariert, aber seine Zukunft nicht von einem Preis abhängig gemacht. 2005 steckte er noch mitten im Studium, und die öffentliche Kür zu einem der besten Nachwuchspianisten der Welt hatte für ihn anfangs etwas Irreales.

Es spricht sehr für seine Erdung, dass Blechacz nicht größenwahnsinnig wurde. Von den ersten größeren Honoraren kaufte er sich und seiner Familie (Vater, Mutter und Schwester) ein schönes Haus auf dem Land, wo er heute noch lebt und arbeitet, beschränkt die Zahl der Konzerte pro Jahr auf maximal 40 und weigert sich hartnäckig, innerhalb Europas allzu oft im Flugzeug zu sitzen. Die Reisen zu den Konzertorten bewältigt er gemeinsam mit seinem Vater im Auto – und spätestens jetzt werden die Parallelen zu Krystian Zimerman sehr offenkundig. Den ruft er manchmal aus Verbundenheit an, und dann sagt Zimerman lakonisch: "Ich stehe hier gerade 25 Kilometer vor Madrid im Stau." Zimerman reist ebenfalls im Auto zu allen Konzerten und transportiert seinen eigenen Flügel im Anhänger.

So weit in der Idiosynkrasie ist Blechacz noch nicht. Einstweilen fügt er sich artig in den Betrieb, akzeptiert die Instrumente vor Ort und vertritt seine Rolle als Chopinist. Wer bei Blechacz genau hinhört, erkennt eine singuläre Begabung darin, wie er sich genaueste Gedanken über den Klang macht. Schon auf der CD mit den Chopin- Préludes war das aufgefallen. Sein Spiel hat etwas früh vollendet Distinguiertes, eine fast unheimliche Genauigkeit des Erzählens. In keinem Takt ist Blechacz ein Salonkuschler oder ein geschmeidiger Lieferant jener Poesie, die tief in Gefühl getränkt ist. Vielmehr herrscht da eine wunderbare Deutlichkeit, eine fliegende Transparenz, als fahre ein Computertomograf mit rasender Geschwindigkeit um die Musik herum und taste sie auf ihr Relief und ihre inneren Strukturen ab.

Durch die Sechzehntelkurven in der linken Hand des G-Dur-Prélude ist kaum jemals zuvor ein Pianist so unwattiert, so brillant und pedalfrei geeilt wie Blechacz. Selbst Arthur Rubinstein oder Martha Argerich spielen das rauschender, pompöser. Blechacz erfüllt durch sein flammend-klares Piano. Anderswo hat man das Gefühl, hier verstehe ein junger Pianist bereits tiefste Geheimnisse. Wie er im düsteren cis-moll-Mittelteil des berüchtigten Regentropfen-Prélude (das er gänzlich unmanieriert und zügig vorträgt) eine Mittelstimmen-Melodie abtönt, von der man eidesstattlich erklären möchte, dass sie in dem Stück nicht vorkommt – das ist Klavierspiel der Sonderklasse. Und aus dem wiederholten tiefen As im Schlussteil des As-Dur-Prélude macht er einen regelmäßig in die unverdächtige Lyrik hallenden Gong aus einer anderen Welt; und der Hörer wundert sich, wieso das so schön und geistvoll noch kein anderer gespielt hat. Die aktuelle Debussy/Szymanowski-Platte wehrt vollends den Verdacht ab, in Blechacz wachse nur ein Spezialist für die Romantik heran. Klugerweise hat der junge Pole auf die bekannten Zyklen verzichtet und bietet stattdessen "Pour le Piano" und die "Estampes", und abermals frappieren pianistische Lesarten, die fast auf den Grund der Stücke schauen. Wie er die wiegende Habanera in "La soirée dans Grenade" plötzlich härtet und in den kühl anklopfenden Akkordketten eine drängende Bitterkeit zum Vorschein bringt, das ist mehr als Impressionismus, mehr als raffinierte Nebligkeit. Blechacz zeigt uns Debussy als Romancier, dessen Nuancen mit dem Bleistift koloriert wurden. Für ihn ist der Franzose ein Klassiker, kein Aquarellist.

Rafal Blechacz umgibt sich nicht mit Allüre, er ist immer noch das behütete Kind anständiger Leute, das allerdings langsam mit dem Image des Ausnahmepianisten zurechtkommen muss. In Interviews hüllt er sich in Zurückhaltung und gibt Allgemeinplätze von sich. Wer aber Szymanowskis wahnwitzige, expressive frühe c-moll-Sonate so existenziell spielt, ist kein Leisetreter, sondern dringt bereits in die Ausdruckszonen der Moderne vor. Natürlich ist der Pole Szymanowski ein lieber Landsmann, aber das Patriotische interessiert Blechacz weniger: Es ist für ihn einfach faszinierende Musik, und so interpretiert er sie auch. Einstweilen muss er freilich viel Chopin spielen. Das ist der Fluch des großen Preises.

(RP)
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