Düsseldorf Der Soundtrack zum Mauerfall

Düsseldorf · Nur drei Tage nach dem Mauerfall spielten Künstler aus Ost und West in Berlin das wohl erste deutsch-deutsche spontane Riesenfestival: BAP, Die Toten Hosen, Pankow und Joe Cocker kamen. Mit dem neuen Live-Album "Mauerfall" kann man die unglaubliche Stimmung nachempfinden.

Das erste Gefühl, das sich einstellt, wenn man dieses Live-Album hört: Ach, wäre man doch dabei gewesen. Wie gerne hätte man inmitten all der glücklichen Leute gestanden, als an jenem 12. November 1989, drei Tage nach dem Fall der Mauer, in der Berliner Deutschlandhalle Geschichte geschrieben wird; nicht nur Musikgeschichte, sondern auch deutsch-deutsche Wiedervereinigungs-Geschichte. Man wäre gerne Teil des Publikums gewesen, als der damalige Konzertansager und heutige ARD-Sportchef Steffen Simon plötzlich in die Menge ruft: "Der Verteidigungsminister der DDR hat soeben in der Aktuellen Kamera bekannt gegeben, dass an den innerdeutschen Grenzen der Schießbefehl aufgehoben ist."

Unfassbarer Jubel brandet auf, Menschen liegen sich in den Armen. Wer das heute hört, der bekommt das, was mit Gänsehaut unzureichend beschrieben ist. Nennen wir es einfach: Wiedervereinigungsglück.

Schon einen Tag nach dem Mauerfall, am 10. November 1989, setzen sich Redakteure der Sendung S-f-Beat des Senders Freies Berlin (SFB) zusammen und überlegen, wie man bei freiem Eintritt ein Konzert für alle Berliner in Ost und West organisieren könnte. Stars aus beiden Teilen Deutschlands sagen zu. Zuerst wird geplant, auf der Straße am Reichstag zu spielen. Man entscheidet sich aus Sicherheitsgründen für die Berliner Deutschlandhalle. Einzig in der Berliner Abendschau hat der SFB-Reporter Holger Senft erwähnt, dass es ein Konzert geben würde, doch 50 000 Menschen kommen verteilt über den Tag zu dem elfstündigen Festival. Mit zeitweise 15 000 Besuchern ist die Halle hoffnungslos überfüllt; 12 000 passen eigentlich nur hinein.

Jahrelang hatten die DDR-Bürger vorwiegend heimische Stars hören können. In den Achtzigern aber erfasst der Wind des Wandels auch die Rockmusikszene. Viele Bands, darunter Silly, unterschreiben 1989 eine "Rockerresolution". Man sei "in Sorge über den augenblicklichen Zustand unseres Landes", über die "unerträgliche Ignoranz der Staats- und Parteiführung, die vorhandene Widersprüche bagatellisiert und an einem starren Kurs festhält".

Von 13 Uhr bis Mitternacht dauert das "Konzert für Berlin": Als Westkünstler spielen unter anderem Die Toten Hosen, Joe Cocker, BAP, Nina Hagen und Marius-Müller Westernhagen. Aus dem Osten treten Pankow, Puhdys und Silly auf. Es ist ein Aufeinandertreffen der besonderen Art: dort die Stars des Ostens, die unter der Käseglocke des Systems populär wurden. Und dann die Stars des Westens wie Joe Cocker, der seine Tour unterbricht, unbedingt die fallende Mauer sehen will. Der Fahrer bleibt nach dem Konzert im Verkehrschaos stecken, per Polizeieskorte wird Cocker zur Mauer gefahren und fliegt erst danach zum nächsten Auftrittsort.

Am bewegendsten sind die Ansagen der Künstler; weniger die der Ostkünstler, bei denen man auch Skepsis rauszuhören meint. Die Euphorie des Augenblicks hört man bei den Ansagen der West-Rockstars. Joe Cocker sagt: "Es ist Eure Nacht, Leute. Es sind Eure Tage." Danach singt er "With a little help from my friends" - im Background-Chor Heinz Rudolf Kunze, Udo Lindenberg, Wolfgang Niedecken und Ulla Meinecke. Der emotionale Höhepunkt wird erreicht, als der erst kurzzeitig genesene Udo Lindenberg auftritt. Er säuselt, er näselt und er schwächelt merklich. Aber er findet eine lyrische Sprache für das, was da gerade mit Deutschland passiert: "Die Vopos stehen noch an der Mauer, aber die Mauer ist bleich geworden. Ein Riesensouvenir. Der Rest muss auch noch weg." Lindenberg weiter: "Und dann sollen beim Abreißen die Männer in den Uniformen ihre Knarren wegschmeißen, auf beiden Seiten, und einfach durchgehen, durchgehen. Löcher da rein machen. Ganz ganz große Löcher. Und dann seid nämlich ihr alle ganz easy in fuffzehn Minuten auf dem Kurfürstendamm. Der Sonderzug aus Pankow braucht einen neuen Lokführer, neue Schaffner und wesentlich besseren Service." Dann singt Lindenberg tatsächlich "Sonderzug aus Pankow" statt "Sonderzug nach Pankow".

Als letztes tritt Nena auf und singt: "Wunder geschehen/ ich hab's gesehen/ es gibt so vieles/ was wir nicht verstehen." Natürlich ist das kitschig bis zur Unerträglichkeit. Aber es trifft den Zeitgeist. Für viele ist dieses Lied, und nicht der Scorpions-Klassiker "Wind Of Change", die Hymne zum Fall der Mauer.

Vielleicht ist es einer der größeren Irrtümer der deutschen Fernsehgeschichte, dass kein Sender Bilder des Konzerts übertrug. Der SFB hatte sich entschieden, stattdessen ein klassisches Konzert der Berliner Philharmoniker zu senden. Das Album "Mauerfall" - klanglich eine Katastrophe - wurde laut Plattenfirma erst kürzlich im Archiv von Rundfunk Berlin-Brandenburg wiederentdeckt. Als "legendäres deutsches Rockkonzert" vermarktet die Plattenfirma Universal-Panorama dieses Album. Traurig nur: Alle Künstler zu gewinnen, ist nicht gelungen. Deshalb fehlt Westernhagens Lied "Freiheit", das er dort spielte. Auch Nena und Die Toten Hosen sind nicht zu hören. Die Plattenfirmen von Ost- und Westkünstlern sollen sich über die Lizenzen nicht einig geworden sein. Man sollte deshalb die Erinnerung mit einem Vers des Lindenberg-Songs "Mädchen aus Ost-Berlin" schließen: "Denn wir wollen doch nur zusammen sein, vielleicht auch etwas länger, vielleicht auch etwas enger."

(RP)
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