Doris Lessing stirbt mit 94 Jahren Der Tod der großen alten Dame

London · Einer ihrer letzten, im besten Sinne eigenartigen Auftritte war jener Mitte Oktober des Jahres 2007. Die damals schon 87-Jährige mit ihrem zur Unverwüstlichkeit neigenenden grauen Haarknoten war vom Einkauf heimgekehrt, doch weil eine Handvoll Journalisten dort lauerte, verrichtete sie nicht ihre Hausarbeit, sondern gab noch auf den Stufen zu ihrem Londoner Haus eine erste Pressekonferenz.

 Doris Lessing ist im Alter von 94 Jahren gestorben.

Doris Lessing ist im Alter von 94 Jahren gestorben.

Foto: dpa, Richard Lewis

Zum Literaturnobelpreis, dem man ihr gerade zuerkannt hatte, nach einem halben Jahrhundert intensiver Schreibarbeit, nach mehr als 30 Romanen, etlichen Dramen, Erzählungen und Lyrikbänden. Nach Angaben ihrer Familie ist sie jetzt im Alter von 94 Jahren gestorben.

Das Skurrile an der Nobelpreisbekanntgabe war nicht nur die Szenerie; es war die so späte Ehrung für ein Werk, das abgeschlossen war und von dem man zur hohen Ehrung nur im Präteritum sprach. Aber vielleicht war es auch typisch für ein literarisches Schaffen, das zwar seine zentralen Themen und in deren Wiederkehr zähe Motive hatte, das aber so disparat und ungeformt war wie das Leben seiner Schöpferin — im Iran als Tochter eines britischen Kolonialoffiziers geboren, in England aufgewachsen und einige Jahre im damaligen Südrhodesien als Ehefrau des deutschen Emigranten und Kommunisten Gottfried Anton Nicolai Lessing lebend. Weil Doris Lessing aber nicht nur über die Welt schrieb und nachdachte, sondern in der Welt lebte, mit ihr litt und gute wie schlechte Erfahrungen machte, war sie eine Zeit lang auch Kommunistin, bis der Einmarsch der Russen in Ungarn 1956 eine andere Weltsicht lehrte.

Lessing blieb zwar Utopistin, aber dieses auf die Zukunft gerichtete Wunschdenken überließ sie weitgehend ihrer Literatur. Diese Zukunfts- und Weltraumromane wie die fünfbändige Reihe "Canopus im Argos: Archive" Ende der 70er Jahre gehört nicht zum Besten, was sie schrieb. Es gibt andere Formen einer Weltverbesserung — vor allem jene, die von Empathie getrieben sind: vom Mitgefühl für den von Aids, Hunger und Korruption geschundenen schwarzen Kontinent in "Afrikanische Tragödie" von 1950; vom Mitgefühl auch für die Rolle der Frau in einer sich rasant und permanent wandelnden Gesellschaft.

Diesem Thema widmete sie ebenso ihr vermeintliches Hauptwerk, den kompliziert verschachtelten Roman "Goldenes Notizbuch" von 1962. Er wurde begriffen als das literarische Manifest des Feminismus, was er nicht ist, und seine Verfasserin als die Vorkämpferin der Frauenrechte, die Doris Lessing nie sein wollte, da sie allen Ismen gegenüber misstrauisch war. Das "Goldene Notizbuch" ist kein Traktat über den Geschlechterkampf, sondern ein Buch über Selbstbefreiung und Ordnungen, die zusammenbrechen. Ein Buch, das den Leser fordert und ahnen lässt, welchen Kraftaufwand diese 700 Seiten seiner Verfasserin abverlangt haben mussten.

Doris Lessing wird manchmal mit Virginia Woolf verglichen. Doch dafür sind sie und ihr Werk zu einzigartig. Dass es in den letzten Jahren ruhig um sie und ihre Bücher geworden ist, sollte indes niemanden beunruhigen. Sie wird mit ihrem Werk die Leser auch über ihren Tod hinaus herausfordern.

(RP)
Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort