Der wütende Komponist

Der griechisch-französische Komponist Iannis Xenakis war einer der großen Einsamen der Moderne. Jetzt erschien sein Klavierwerk.

Nicht mehr als zehn Instrumente benötigte Iannis Xenakis im Jahre 1975, um die Partitur zum Schlachtfeld zu machen. Der Beginn beschreibt noch ein Ritual letzter Harmonie, es kreist um einen einzigen Ton, dann bemächtigen sich seiner die Gewalten. Der Ton zerläuft, verliert seine Kontur, die Musik beginnt von innen heraus zu brennen, ein unerhörter Strudel erfasst sie, bis sie sich nicht mehr halten kann und die Tonleitern irr durch die Noten schießen. Plötzlich ist die Schlacht geschlagen, sie bricht, keine 15 Minuten sind vergangen, einfach ab.

Das Stück heißt "Phlegra", und mit Ehrfurcht erinnert man sich der mythischen Bedeutung dieses Namens: Hier rangen die Titanen mit den neuen Göttern des Olymps. Als Xenakis "Phlegra" komponierte, saß er in seiner Wahlheimat Paris, gleichsam in der Residenz romanischer Klarheit, und träumte wieder von den archaischen Momenten der griechischen Antike. Die Regierung in Athen hatte soeben das Todesurteil gegen ihn, den ehemaligen Widerstandskämpfer, aufgehoben und ihm seinen Pass ausgehändigt.

Der griechisch-französische Komponist, 1922 in Rumänien geboren, war jetzt auch offiziell jener Januskopf, der er immer sein wollte, denn er hatte zwei Herzen in seiner ungebärdigen Brust: Links schlug der kalte Wille zur erhabenen Logik, pulste unerbittlich die Anbetung der Naturwissenschaft als dem Ort musikalischer Empirie; rechts eröffneten sich die Kanäle einer tödlichen, alles verzehrenden Sinnlichkeit. Bis heute kann sich Xenakis' Werken kein Hörer nähern, ohne fürchten zu müssen, dass er ihnen nicht gewachsen sei und niemals Einblick in ihre Gesetze gewinne.

Jetzt ist, lange vermisst, die gesamte Klaviermusik von Xenakis auf CD erschienen. Sein griechischer Landsmann Stéphanos Thomopoulos erweist sich als der typische Protagonist des Freundes der griechischen Mythologie, der dem Helden beisteht. Wir hören Musik, die an den Grenzen der Sinne nach den Buchstaben des Klangs sucht. Gewiss brütet Xenakis (etwa in "Evryali") auch hier Reibungen aus, sucht er (etwa in "Herma") nach den Glasperlenspielen, die aus der Klaviatur steigen. Aber wir begegnen auch wieder den kolossalen Flüchen und Zertrümmerungen, ohne die seine Musik nicht auszukommen scheint.

Eine wunderbare Überraschung sind die frühen sechs Chansons für Klavier: zarte, unprätentiöse Gebilde von seltsamer Zartheit, oft nur zweistimmig, anderswo von fast romantischer Klanglichkeit. Thomopoulos gelingt hier wie dort eine eindrucksvolle Expressivität.

Auch hier zeigen sich relevante Aspekte von Xenakis' Ästhetik. Immer brachte dieser große Einsame der Musik des 20. Jahrhunderts die Elemente gegeneinander auf und mit artistischen Computerprogrammen in Stellung, die er streng über jede Wahrscheinlichkeit richten ließ. Paradoxes Ergebnis der Stochastik: Wer Xenakis' Noten vor sich hat, sieht sich bisweilen mit Geheimwelten aus Informatik und wüsten Schraffuren konfrontiert; wer seine Musik hört, erschrickt vor ihrer offenen, jeden Widerstand bezwingenden Gewalt, wenn sie weite Akkordfelder mit heiligem Zorn bestellt oder manchmal nur einen einzigen Ton in ein Säurebad taucht.

Am Computer entstand Musik als Artefakt des Baumeisters - Xenakis war gelernter Architekt und lange Zeit Assistent von Le Corbusier -, im Konzert verflüssigt sie sich zu Quecksilberströmen. In solch produktiver Doppeldimension aus Mathematik und deren Auslöschung durch den Schock des elementaren Klangs entstanden die meisten von Xenakis' Kompositionen: das aberwitzig zirkulierende Cembalo-Stück "Khoai", die schier spiralnebligen Verschlingungen in "Metastaseis", das elektronisch erbastelte Geräusch aneinander koppelnder Güterwaggons in "Bohor", die chaotische Ordnung verschobener Rhythmen in "Jalons", die verwirbelten Kraftfelder in "Persephassa". Und allenthalben das Phänomen einer großräumigen Energie, die dichte Klangwolken bildet und deren anarchische Substanz enthusiastisch abregnen lässt.

Als Ingenieur der musikalischen Zeit und ihrer dramatischen oder filigranen Steigerungsmöglichkeiten erweist sich Xenakis bei grober Analyse als Quersummeaus Edgar Varèse, dem Schöpfer der legendären "Ionisations", und György Ligeti, dem Erfinder der traubenhaften Klanggespinste von "Atmosphères". Doch Xenakis' Eigenart war es, dass er sich dem doktrinären Typus von Lehren und Schulen fast boshaft widersetzte. So kam es, dass er wieder und wieder zu den verlorenen Klängen der Welt aufbrach, deren folkloristisches Potenzial entdeckte und mit Kalkül auch den Viertelton zum höchst expressiven Mittelpunkt der Grundsatzforschung machte, wie in dem Antikenprojekt "Oresteia", einer wundervollen Musik, die den reinen Aischylos traumatisch auf unerhörte Reise durch Zeit und Raum schickt.

Das Komponierleben als das Erforschen von Räumen also, für deren Türen Xenakis, darin Jünger seines Lehrers Olivier Messiaen, seltsamerweise nur einen ganz einfachen Schlüssel gefeilt wissen mochte: das Hören. Das wache Ohr, so glaubte Xenakis, besitze die wissende Gabe, das Spektrum aller sich tönend verändernden Charaktere (Tonhöhe, Dauer, Intensität) genauestens zu erfassen; und so gibt es kaum eine Komposition aus seiner Feder und seinem Computer, welche die Begrenztheit von Stimme oder Instrument überschritte. Im Gegensatz zum Serialismus ordnete Xenakis freilich nicht das Einzelne, sondern gleich die Totale. Damit erhebt sich seine Musik über alles Punktuelle und sucht in jedem Augenblick ihren singulären Platz im Weltall von Ton, Klang, Licht und Raum.

Xenakis starb 2001 im Alter von 78 Jahren in Paris. Sein letzter Wunsch war es, auf den Kykladen beerdigt zu werden - die Sehnsucht nach der ewigen Stille der Heimat, in der keine Visionen mehr programmiert, keine Schlachten mehr geschlagen werden müssen.

(w.g.)
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