Serie Leben im Kloster (6) Die Abtei der Heiligen Hildegard im Rheingau

Eibingen · 54 Benediktinerinnen leben heute in dem Kloster, das die große Mystikerin gegründet hat. In diesem Jahr wurde sie heiliggesprochen.

 Schwester Raphaela (32) an der Treppe zur Pforte der Abtei St. Hildegard im Rheingau. Noch ist sie Novizin.

Schwester Raphaela (32) an der Treppe zur Pforte der Abtei St. Hildegard im Rheingau. Noch ist sie Novizin.

Foto: RP Andreas Krebs

In Rüdesheim am Rhein ist auch im Winter Rummel. Entlang der Uferpromenade stehen die Weihnachtsbuden Wand an Wand, Touristen drängen sich durch die glühweinseligen Gassen. Im Dunst von Zuckermandeln und Eierpunsch herrscht jahrmarktliche Geschäftigkeit.

In den Weinbergen oberhalb des Ausflugsorts dagegen hat die stille Jahreszeit begonnen. Die Reben sind eingebracht, die Weinstöcke winterfest gemacht, ihr knorriges Geäst ist zurückgeschnitten. In der Ruhe von Eibingen, hoch über dem Rhein, liegt die Abtei der Heiligen Hildegard — ein langgestreckter Bau mit zwei markanten Kirchtürmen, erdfarben, als sei er aus demselben Boden geformt, auf dem der Riesling so gut gedeiht. 54 Benediktinerinnen beten und arbeiten in dem Kloster, bewirtschaften acht Hektar Weinberge, keltern 60 000 Flaschen Wein jedes Jahr. Den verkaufen sie im Klosterladen neben Büchern, Kerzen, Keramik — so verdient die Gemeinschaft ihren Lebensunterhalt.

Schriften über heilende Kräuter

Eine Kräuterecke allerdings sucht man im Laden vergebens. "Hildegard ist keine Dinkel-Heilige", sagt Schwester Philippa. Sie lebt seit 20 Jahren in der Abtei — an den Ort gebunden wie alle Benediktinerinnen. Die Gründerin des Klosters, Hildegard von Bingen (1098—1179), hat nicht nur berühmte religiöse Schriften verfasst, sondern auch komponiert und über Kosmologie und Medizin geschrieben. Etwa über die heilsame Kraft des Dinkels. So wird sie in esoterischen Kreisen verehrt.

Doch am Geschäft mit Kräuterkunde im Namen ihrer Patronin beteiligen sich die Schwestern nicht. "Wir kochen hier nicht nach Hildegard, wir singen in der Kirche nicht ihre Kompositionen", sagt Schwester Philippa, "wir leben und beten als Benediktinerinnen — genau wie sie selbst vor 900 Jahren." Im Mittelalter habe jedes Kloster eine Apotheke, einen Kräutergarten, ein Krankenhaus gehabt, Heilkunde gehörte zum üblichen Angebot der Klöster. "Das Besondere an Hildegard ist, dass sie schon im 12. Jahrhundert ein komplettes theologisches Werk vorgelegt hat, das von der Schöpfungs- bis zur Erlösungstheologie reicht", sagt Philippa, "das hatte bis dahin keine andere Frau geschafft."

Drei Monate später kam der Anruf aus Rom

Darum hat der Papst Hildegard in diesem Jahr zur Kirchenlehrerin erhoben und heiliggesprochen. 900 Jahre hat es gedauert, bis der Gelehrten aus Bingen diese Anerkennung zuteil wurde. Entsprechende Vorstöße im Vatikan waren in allen Jahrhunderten gescheitert. Doch dann hielt der deutsche Papst im September 2010 zwei Predigten über die Mystikerin vom Rhein und nannte sie darin eine Heilige. Das ermutigte die Schwestern, sich erneut an den Papst zu wenden mit der Bitte, ihre Patronin auch formal zur Heiligen zu erklären.

Drei Monate später kam ein Anruf aus Rom, der Prozess zur Heiligsprechung hatte begonnen. Im Oktober dieses Jahres wurde dann auf dem Petersplatz in Rom ein riesiger Wandbehang mit dem Bild der Hildegard entrollt, Benedikt XVI. sprach die große Theologin heilig. "Dass ich nun zu der Schwesterngeneration gehöre, die das miterleben darf, hat mich sehr berührt", sagt Schwester Raphaela (32). Sie lebt seit vier Jahren im Kloster auf dem Weinberg, trägt noch den weißen Schleier der Novizin, hat die benediktinischen Gelübde — Gehorsam, Beständigkeit und klösterlicher Lebenswandel — noch nicht endgültig abgelegt.

"Mich macht die Liturgie glücklich"

Raphaela ist in Rietberg bei Paderborn aufgewachsen. Katholische Gegend. Religion habe in ihrem Elternhaus eine wichtige Rolle gespielt, sagt sie und, dass die Kirche ihr immer ein Zuhause gewesen sei. "Mit der großen Bekehrungsgeschichte kann ich nicht dienen", sagt Raphaela, und ein Lächeln zieht in ihr klares, frisches Gesicht. "Ich bin nie gern in die Disco gegangen, hab' weder geraucht, noch getrunken." Nach dem Abitur studierte sie Theologie in Bonn und Paderborn, zur Promotion über Kirchengeschichte ging sie nach Würzburg. Damals festigte sich in ihr das Gefühl, dass ihr Weg ins Kloster führen könnte. Doch wusste sie nicht, in welche Ordensgemeinschaft.

"Im Gebet habe ich zu Gott gesagt: Ich bin jetzt bereit einzutreten, aber Du musst mir auch zeigen, wo", sagt Raphaela. Sie hat die Frage weiter im Gebet bewegt. Irgendwann war ihr klar, dass sie nach den Regeln des Heiligen Benedikt leben wollte. Sein "ora et labora et lege", bete und arbeite und lies, sprach sie an. "Mich macht die Liturgie glücklich und das Auf-der-Suche-Sein nach Gott", sagt Raphaela, "ich hätte ja auch in einen caritativen Orden eintreten können, aber ich wollte das Gebet in den Mittelpunkt meines Lebens stellen und mich mit religiösen Schriften beschäftigen."

In der Sprache einer Mystikerin

Sie schrieb eine Mail an die Novizenmeisterin der Abtei St. Hildegard, fuhr zu einem Gespräch dorthin — und wäre am liebsten gleich geblieben. "Es gab da kein Blitzereignis", sagt sie, "ich habe nur gespürt, dass das benediktinische Leben für mich stimmig ist, dass da etwas ist, auf das ich meine Existenz gründen kann." Es sei ihr natürlich erschienen, in diesen Orden einzutreten, ganz schlicht, ganz nüchtern. Nur mit wenigen Freunden hat Raphaela vorher über diesen Schritt gesprochen. "Ich wollte bewahren, was mir kostbar war", sagt sie, "ich wollte das nicht zerreden." Noch immer fällt es ihr schwer, mit profanen Worten zu erklären, was dieses Kostbare ist. "Liebe ist ja etwas, das uns ergreift", sagt sie, "das ist eine Ahnung jenseits der Sprache."

Was Schwester Christophora (47) schwer in Worte fassen kann, formt sie aus Ton. Dann baut sie schlanke, leicht aus dem Lot gebogene Säulen mit Gesichtern, die sich sacht aus dem Ton erheben. "Vir III" ist so eine Figur: der Mensch zwischen Himmel und Finsternis, ein Geschöpf Gottes, das mit irdischen Schwächen ringt. Die Heilige Hildegard hat in ihrem zweiten Visionenwerk "Liber Vitae Meritorum", dem Buch der Lebensverdienste, über diesen Vir geschrieben — in mächtigen, allegorischen Bildern, in der Sprache der mittelalterlichen Mystikerin.

Genauigkeit ist ihre Kunst

"Diese Bilder muss man schon meditieren", sagt Schwester Christophora und fährt mit den Fingern über die Glasur ihrer Figur. Unter ihrem Schleier schaut ein roter Pony hervor, ihr Blick ist freundlich spöttisch, Fragen über ihre Arbeit beantwortet sie knapp — wie viele Künstler. Mit 20 ist sie ins Kloster von Eibingen eingetreten. Die Menschlichkeit im Zusammenleben der Frauen habe ihr gefallen, sagt sie. Erst dort entdeckte sie ihr Talent für Keramikarbeiten. Inzwischen hat sie eine helle Werkstatt in der Abtei mit großem Brennofen, übernimmt auch Auftragsarbeiten und trägt so zum Unterhalt des Klosters bei. "Das ist hier auch mein Rückzugsort", sagt Christophora, schlüpft in ihre Arbeitsschuhe, bindet die Schürze um, wickelt Ton aus einer Plastikfolie. Zum Gebet kehrt sie dann zurück in die Gemeinschaft. Sie mag diesen Wechsel zwischen Ora und Labora. "Das Chorgebet ist auch Inspiration", sagt sie, "man kehrt anders an seine Arbeit zurück."

Auch Schwester Judith hat ihr künstlerisches Talent erst im Kloster entdeckt. Vor dem Ordenseintritt war sie Krankenschwester. Doch als sie vor 40 Jahren nach Eibingen kam, wurde in der Goldschmiede eine Schwester gebraucht. Also ging sie in der Benediktinerabtei Münsterschwarzach in die Lehre, kehrte an den Rhein zurück und fertigt seitdem sakrale Geräte und profanen Schmuck. Gerade feilt Schwester Judith (67) an einem Kreuz aus Feingold. Das pure Material ist sattgelb, doch zu weich für Schmuck. "Sehen Sie", sagt Schwester Judith und biegt das Kreuz, "aber der Kunde möchte es so haben." Genauigkeit ist ihre Kunst. Das wird klar, als sie ihr Meisterstück aus dem Schrank holt. Ein Anhänger, der sich als Hostiendose entpuppt mit Intarsien aus schwarzem Blei, kleinen Fenstern aus durchscheinendem Emaille. Das erfordert Techniken, die in der Welt fast vergessen sind. Schwester Judith hat Fotos von all den Kelchen und Tabernakeln, die sie im Laufe der Jahre geschmiedet hat. Doch die Glocke läutet, es ist Zeit für das Mittaggebet. Wieder unterbricht der Konvent die Arbeit und versammelt sich vor Gott.

Für die Besucher unsichtbar

In der Kirche sitzen die Nonnen für Besucher unsichtbar im Chorgestühl links vom Kirchenschiff. Doch ihr Gesang — diese klare, lichte Musik — schwebt hinüber zur Gemeinde. Zum Lob Gottes singen die Nonnen gregorianische Choräle, schlichte Stücke mit kleinen Intervallen, mehr Linie als Melodie. Es ist demütige Musik, die den Zuhörer doch erhebt durch ihre Schwerelosigkeit. Ein Gesang, der einer Gemeinschaft Sammlung schenkt, sie einstimmig werden lässt.

64 Jahre hat Schwester Cäcilia zu dieser Gemeinschaft gehört. Am Vortag ist sie nach langer Krankheit gestorben. Nun ruht ihr Leichnam aufgebahrt im Kapitelsaal des Klosters. "Für uns ist es etwas sehr Schönes, dass unsere Mitschwester nun dort liegt", sagt Schwester Philippa, "sie sieht schon ganz verklärt aus." Sich jeden Tag vor Augen zu führen, dass der Mensch sterblich ist, gehört zur benediktinischen Spiritualität. "Unsere Hütten auf Erden sind nicht für die Ewigkeit gebaut", sagt Philippa, "wer sich das immer vor Augen führt, lebt verantwortlicher." Bedrückend findet sie das nicht. "Ich glaube an die Auferstehung und ein Leben nach dem Tod", sagt sie, "das ist unser Ziel, davor müssen wir uns nicht fürchten."

Sätze voll stillem Ernst

Auch die Novizin Raphaela hat bereits Erfahrungen mit dem Tod gemacht. Die ersten Jahre nach ihrem Eintritt ins Kloster hat sie in der Pflege der alten Mitschwestern gearbeitet, hat einige von ihnen auch in den Tod begleitet. "Wenn man Sterbenden die Hand hält, spürt man, dass man da etwas übergibt, dass der Mensch geholt wird", sagt Schwester Raphaela. Auch ihr macht das keine Angst. "Sterben ist im Kloster etwas sehr Schönes", sagt sie. "Wir glauben ja, dass unsere Mitschwester bei Gott ist, das gibt Stärke und Trost."

Raphaela sagt solche Sätze mit stillem Ernst und Eindringlichkeit, entschieden, nicht pathetisch. Ihrer Familie fiel es anfangs schwer, ihren Entschluss fürs Kloster zu verstehen. "Meine Eltern haben sich über jeden Menschen gefreut, der einer geistlichen Berufung folgt", sagt Raphaela, "nur sollte es bitte nicht die eigene Tochter sein." Doch das habe sich schnell verändert, als die Eltern ihr Kind in Eibingen besuchten, selbst sehen konnten, wie sich Klosterleben seit dem 2. Vatikanischen Konzil verändert hat. Sie hätten nicht mehr das Gefühl gehabt, ihre Tochter auf ewig verloren zu haben, sagt Raphaela — auch wenn sie Feste wie Weihnachten nie mehr im Daheim ihrer Kindheit feiern wird.

"Bei meiner Einkleidung hat meine Mutter gesagt, dass ich ihr nicht fremd geworden bin in der Klostertracht", sagt Raphaela. Das habe ihr gut getan. "Ich bin hier, um durch mein Leben Zeugnis zu geben", sagt sie. "Dieses Leben macht mich glücklich."

(RP/pst)
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