"Die Analphabetin, die rechnen konnte" Der neue Roman von Jonas Jonasson ist grandios

Gotland · "Die Analphabetin, die rechnen konnte" ist der zweite Roman des schwedischen Bestseller-Autors. Ein turbulentes, furioses und schelmisches Buch, das sein erfolgreiches Debüt mit dem "Hundertjährigen" noch übertrifft.

Die Geschichte des Jonas Jonasson ist in Wahrheit ein Märchen. Das erzählt von einem umtriebigen Medienunternehmer, der einst 100 Mitarbeiter beschäftigte und in seinem Leben bald kaum etwas anderes als die Arbeit kannte. Bis zum Burn-out, zur Depression, zum tiefen Fall. Was ihm bleibt, ist die Flucht aus seinem früheren Leben und sogar seinem Heimatland Schweden. Am Luganer See schreibt er die Geschichte eines anderen Aussteigers. Der heißt Allan Karlsson und ist 100 Jahre alt.

Aus der vielleicht auch therapeutischen Geschichte wurde ein Roman und aus dem Roman einer der größten Buch-Erfolge der vergangenen Jahre. Seit 107 Wochen steht "Der Hundertjährige, der aus dem Fenster stieg und verschwand" auf der "Spiegel"-Bestsellerliste; davon 32 Wochen auf Platz 1. Allein im deutschsprachigen Raum wurden 2,3 Millionen Exemplare verkauft.

Ein Märchen also mit Happy End — und jetzt auch mit einer Fortsetzung. Jonas Jonasson ist nach Schweden zurückgekehrt und lebt auf der Insel Gotland. Nach so einem Megaseller wie dem "Hundertjährigen" ist nur eins noch leichter, als den zweiten Roman himmelhochjauchzend zu loben — nämlich ihn in Grund und Boden zu verreißen. Weil auch Märchen manchmal eine Fallhöhe brauchen.

Doch auch das ist beim 52-jährigen Jonasson ganz anders. Denn dem Clou des erfolgreichen Debüts folgt nun ein grandioses Neuwerk. Von wegen einmaliger Glückstreffer. "Die Analphabetin, die rechnen konnte" ist das furiose Werk eines offenkundig großen Erzählers, dessen Verdienst es ist, das Schelmische wieder in die Literatur des 21. Jahrhunderts zu bringen und selbst sensible und auf politische Korrektheit abonnierte Themen wie Apartheid und atomare Bedrohung mit überwältigender Leichtigkeit zu erzählen. Einer der besten, witzigsten, grandiosesten und bedenkenswertesten Romane seit langem. Der Roman, der am Freitag in die Buchläden kommt, steht allein aufgrund der Vorbestellungen beim Online-Händler Amazon bereits auf Platz 2 der Belletristik. Selbst die monströse Startauflage von 800.000 Büchern scheint keine Träumerei der verlegerischen Bertelsmänner zu sein.

Dass man nicht weiß, womit man in diesem Roman beginnen soll und warum man es gegen Ende auch absolut logisch findet, wenn der schwedische König und der Ministerpräsident entführt werden und mit der jungen Südafrikanerin Nombeko über die Aufbeahrung einer eingeschmuggelten Atomrakete diskutieren, gehört zur Eigenart und zum Faszinosum des Buches. Der Reihe nach kann man in diesem Roman kaum etwas erzählen, weil so viel miteinander verwoben ist.

Aber vielleicht sollte man doch ein paar Worte über Nombeko verlieren, über jene titelgebende Analphabetin, die in den Slums von Soweto Latrinen reinigt. Bis sie auf dem Gehweg von einem volltrunkenen Ingenieur über den Haufen gefahren wird. Und weil er ein Weißer ist und der Gerichtssaal in Südafrika steht, ergeht folgendes Urteil: Die schwarze Nombeko soll dem Ingenieur 5000 Rand für seelisches Leid und 2000 Rand für die Beulen am Auto zahlen sowie über sieben Jahre in seinem Haus dienen. Dabei kommen zwei Dinge unheilvoll zusammen: Zum einen ist Nombeko nicht nur blitzgescheit — sie hat Lesen gelernt und kann wie ein Teufel rechnen; außerdem ist sie steinreich: Durch Zufall gelangte sie in den Besitz einiger Diamanten. Zum anderen ist der Ingenieur nicht nur ein Vollzeit-Alkoholiker, sondern im südafrikanischen Apartheids-Regime auch zuständig für den Bau einer Atombombe. Es kommt zwangsläufig — wie sagt man: zu folgenreichen Überschreitungen einzelner Kompetenzbereiche.

Dass im Haushalt auch drei junge und vielseitige Chinesinnen wegen Kunstfälschung dienen müssen und sich in der Dosierung von Giftmischungen gerne mal irren, macht die ganze Sache nicht leichter. Fast vergessen hätten wir noch zwei böse Mossad-Agenten, die eigentlich skrupellos und gewieft sind, die aber immer wieder Nombeko in die Falle gehen und dabei dem Ministerpräsidenten von Israel zehn Kilogramm Antilopenfleisch statt einer Atomrakete zuschicken. Sollte dabei noch jemand China vermissen — keine Sorge: auch das Staatsoberhaupt des Riesenreichs ist dabei. Zudem zeugt hoch im Norden — Schweden nämlich — ein gewisser Ingmar Qvist auf akrobatische Weise Zwillinge, Holger 1 und 2, ohne die die Geschichte nicht auskommt. Das ist nur das erste Drittel des Romans. Doch Jonasson lässt seine Leser nicht allein und untertitelt die Kapitel mit Zusammenfassungen wie diesen: "Davon, wie es in einem anderen Teil der Welt zuging, als alles quasi ins Gegenteil umschlug."

Kurz und gut: ein unglaubliches Buch, getränkt mit reichlich Leben, getrieben von Fantasie und mit dem 20. Jahrhundert so leichthändig und souverän spielend, dass man kaum verstehen kann, warum nach 440 Seiten schon Schluss ist. Ein letzter Rat: ab Freitag Urlaub nehmen oder krankfeiern oder kündigen — und den neuen Jonasson lesen!

(RP)
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