New York Die Gegenwart mitschreiben: US-Autorin Lillian Ross ist tot

New York · Im Jahr 1950 begleitete sie als Reporterin die Dreharbeiten zum Film "Die rote Tapferkeitsmedaille". Lillian Ross setzte sich zum Filmteam und ging nicht mehr weg, sie machte sich unsichtbar, und Regisseur John Huston nahm sie irgendwann gar nicht mehr wahr. Ihr Bericht erschien 1952 als Buch mit dem Titel "Picture": Es war ein Abgesang auf das alte Hollywood, dem gierige Studiobosse alles Traumhafte ausgetrieben hatten. Es besiegelte das Ende eines Mythos.

Mit diesem Buch hat die 34 Jahre alte Autorin des US-Magazins "New Yorker" die literarische Welt verändert. Kollegen wie Norman Mailer, Tom Wolfe und Hunter S. Thompson wollten plötzlich schreiben wie diese Frau: interessiert, persönlich und mit leicht spöttischem Tonfall. Ross benutzte nie ein Diktiergerät, sie hörte bloß zu und lauerte auf das Zitat, das alles verrät. Als Truman Capote 1965 seine Fakten-Erzählung "Kaltblütig" herausbrachte, hatte er sich dessen Form bei Lillian Ross geborgt: Sie gilt als Erfinderin des Tatsachenromans.

Ross gehörte 70 Jahre lang zu den Größen des intellektuellen Amerika. Im "New Yorker" veröffentlichte sie legendäre Stücke, etwa das über ihre Begegnung mit Hemingway. Darin wird er als schlimmer Schwadroneur beschrieben, der seine Kumpel-Freundin Marlene Dietrich auf einen Drink trifft und sie immerzu "The Kraut" nennt. Hemingway indes gefiel es; er und Ross blieben ein Leben lang befreundet.

Ross war eine der wenigen, die ständigen Kontakt zum abgetauchten Literatur-Phantom J. D. Salinger hielt. Und sie war stets am Neuen interessiert: Als sie über den Regisseur Wes Anderson schrieb, war sie bereits über 80. Einer ihrer besten Texte entstand in den 90er Jahren und handelt von den Codes der Privatschüler an der Upper East Side.

Ross' Art zu erzählen, inspirierte Schriftsteller und Journalisten. Nun ist sie an einem Herzinfarkt gestorben. Sie wurde 99 Jahre alt.

(hols)
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