Paris Die Meisterin der grausigen Mythen

Paris · Die famose französische Krimiautorin Fred Vargas bringt einen neuen Fall. Wieder löst ihn Kommissar Adamsberg, das Landei in Paris.

Wer aus den fernen Pyrenäen stammt, wird in Paris wohl nie ankommen. Er muss ein Fremder bleiben. Deshalb drängt es ihn raus aus dem Dezernat für Gewaltverbrechen im 13. Arrondissement; die Blicke seines Capitaines und seiner Lieutenants sind ihm egal, wenn er sich in ein knittriges Jackett zwängt, dem Regen trotzt und die Luft auf dem Weg zur Seine wie eine Pâté de campagne frisst. Die Kollegen sind ein glänzendes Team, in dessen Getriebe er unbemerkt abtaucht, um jenseits der klaren Fährten zu ermitteln. Diese Art der Kriminalistik ist beispielhaft, weil sie das Gegenteil des perfekten Kommissars abbildet.

Jean-Baptiste Adamsberg gilt unter den vielen literarischen Fahndern des Abendlands als ein Meister der Verweigerung. Seine Verhöre führt er mit jener Innigkeit, mit der Säuglinge frottiert werden. Akten sind dazu da, vergessen zu werden. Einen Mörder nagelt er fest, indem er mit offenem Mund durch ihn hindurchschaut, als sei er gläsern. Vor allem geht Adamsberg, wenn ihn keine Ahnung bewegt oder sein Hirn vollends leer ist, am liebsten "Wolken schaufeln", wie es in seinen Krimis heißt. Der "Wolkenschaufler" ist zum geflügelten Wort geworden, seit Fred Vargas ihn verwunschene Gräber inspizieren, grausige Mythen besichtigen, seltsame Bestien jagen und rachekranke Mörder erleben lässt.

Vargas, die Erfinderin, Ernährerin und Managerin von Kommissar Adamsberg, muss schauen, dass sie im jeweils nächsten Fall nicht zu verschroben vorgeht; dass die Fälle nicht zu abseitig geraten. Andererseits wollen die Fans der derzeit berühmtesten französischen Kriminalautorin genau dies: dass sie wieder ein Fass ohne Boden aufmacht, das tief in die Geschichte reicht und die Ermittler zwingt, schwarze oder blutrote Erde zu durchpflügen.

Fred Vargas, 1957 in Paris geboren, doch normannischen Geblüts, heißt mit bürgerlichem Namen Frédérique Audion-Rouzeau, und ebenso weltfern wie ihr bürgerlicher Name ist ihre bürgerliche Existenz: Sie arbeitet als Archäozoologin, die aufs Mittelalter spezialisiert ist. Doch seit ihren Erfolgen als Kriminalautorin steht die Erforschung gesplitterter Schneckenhäuser und obskurer Fellfunde, die an Ausgrabungsstätten auftauchen, an zweiter Stelle. Dabei hat sie die Profession nicht gewechselt, sie schickt nur ihren Adamsberg vor, dass er in der Ewigkeit der Materie zum richtigen Zeitpunkt die richtige Ableitung wie einen unscheinbaren roten Faden vom Boden oder aus der Luft fischt, um einen Mörder zu überführen.

"Fliehe weit und schnell", "Es geht noch ein Zug von der Gare du Nord", "Die dritte Jungfrau", "Der vierzehnte Stein" oder "Der verbotene Ort" sind die bekanntesten Romane der Autorin, die dem Milieu eines einzigartigen Kommissariats eine nicht minder wichtige Rolle zukommen lässt. Adamsberg kann als verträumter Primus, der einen Fall löst, indem er sich ihm zu verweigern scheint, nur deshalb funktionieren, weil er treffliche Hinterleute hat - vor allem den Capitaine Danglard, einen ritterlichen Weißweintrinker und Alleinerzieher einer krähenden Kinderschar. Dessen schier lexikalisches Gehirn dient als Festplatte, mit welcher die spektakulären Verirrungen und Eingebungen Adamsbergs häufig abgeglichen werden. Als Summe von Intuition (Adamsberg) und Übersicht (Danglard) ist das - verbal nicht minder schlagfertige - Kommissariat unbezwingbar. Zudem wirken im Hintergrund Leute wie die wendige Violette Retancourt, die im Lieutenants-Rang nach Art eines weiblichen Obelix all jene Gegner verdrischt, die Adamsberg ans Fell wollen.

Und dieses Fell hegt und pflegt Fred Vargas, es ist das Kapital dieser Romane. Adamsberg ist das unzeitgemäße Genie - zerknautscht, technikfeindlich und wunderlich. Dabei darf er nur scheinbar als geistiger Verwandter von Georges Dupin angesehen werden, jenem in Paris geborenen Ermittler, der in die Bretagne strafversetzt wurde und dort mit maximaler Unfreundlichkeit und Effizienz seine Fälle löst. Während Dupin den Hauptstädter in der Diaspora Concarneau keine Sekunde verleugnet, gelingt es im Gegenzug Adamsberg nie, seine bäuerlichen Wurzeln auszureißen und zu kompostieren. Seine Spintisiererei, seine unstete Lebensführung verläuft parallel zu seiner Unfähigkeit, in Liebesdingen eine verlässliche Haltung zu entwickeln. Das führt zu folgenschweren Nächten mit seiner ewigen Camille, einer Musikerin, die Adamsberg - zum Leidwesen des väterlichen Danglard - regelmäßig verlässt und betrügt, obwohl er sie tief im Innersten liebt wie keine andere. Mit Camille fiebern die Leser von Roman zu Roman, wann Adamsberg endlich vernünftig wird.

Weisheit bei Jean-Baptiste Adamsberg? Anflüge bemerkt man schon, wenn er etwa in "Die Nacht des Zorns" den Lieutenant Veyrenc über dessen Zukunft ausfragt und ihm achselzuckend die Hilfe verweigert. Begründung: "Man kennt seine Entscheidung immer schon lange, bevor man sie trifft. Im Grunde von Anfang an. Darum nutzen Ratschläge überhaupt nichts."

Im Oktober werden Vargas-Fans wieder bedient, doch müssen sie Abschied vom Aufbau-Verlag nehmen, der Vargas bislang betreut hat und selbstverständlich den unschätzbaren Vargas-Hort hütet. Die Autorin hat sich dem Limes-Verlag zugewandt, der jetzt "Das barmherzige Fallbeil" auf den Markt bringt. Abermals geht Vargas auf Reise in ferne Zeiten, ferne Länder, ferne Situationen, die mit der französischen Geschichte jedoch untrennbar verbunden scheinen. So springt das Buch in den famosen Spagat zwischen der Insel Island und den würgenden, in die Gegenwart reichenden Schatten von Robespierre, dem Philosophen der Guillotine.

Vargas' Trickreichtum beschränkt sich nicht auf das Erfinden bizarrer Konstrukte. Neulich zwinkerte sie in die französische Literaturgeschichte. In der "Nacht des Zorns" geht es um Brotkrumen am Bett eines Mordopfers, die ein "kleiner Däumling" oder ein "Oger" verstreut habe. Das ist ein listig-liebender Blick zurück zum großen Kollegen Michel Tournier ("Der Erlkönig"), der in einer Kurzgeschichte den "kleinen Däumling" welchen Nachnamen tragen lässt? Richtig: Oger.

Oger sind urzeitlich-gefräßige Monster; Tournier liebt sie, Vargas auch. All ihre Mörder sind Oger, die Adamsberg überführt, indem er sein leisestes Lächeln aufsetzt und jenen geheimen Fährten lauscht, die auf dem Boden liegen und in den Wolken hängen.

(w.g.)
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