Berlin Die Porträts seiner Lieben

Berlin · "Closer" zeigt Radierungen von Lucian Freud im Berliner Gropius-Bau. Auch der Enkel von Sigmund Freud durchleuchtet den Mensch.

Wir sehen jede Falte, jeden Fleck und jedes Härchen. Die Gesichter sind oft müde, die Augen traurig und leer. Manchmal sind die Körper wie ausgedörrt, mitgenommen und schwer gezeichnet vom gelebten Leben, die Haut ist spröde und durchsichtig wie altes Papier. Dann wieder scheint der gnadenlos schauende und präzise sein Handwerk vollführende Künstler wie besessen von der wabbeligen und wulstigen Fleischmasse einiger seiner Modelle. Hier schaut jemand genau hin, geht ganz nah heran und erfasst den Menschen in seiner existenziellen Verzweiflung und ausweglosen Vergänglichkeit.

Lucian Freud, 1922 in Berlin geboren, 2011 in London gestorben, gehört zu den bedeutendsten Künstlern des 20. Jahrhunderts, und wie wohl kaum ein Zweiter hat er den psychologisch tiefgreifenden und schonungslosen Realismus in der Darstellung des Menschen gegen die wechselnden Moden behauptet. In seiner Malerei hat Freud so lange Farbschichtungen übereinandergelagert, bis die Kreatur Mensch in ihrer brüchigen und erhabenen Schönheit zum Vorschein kommt. In seinem grafischen Oeuvre und vor allem in seinen Radierungen hat er ritzend und kratzend mit wilden Schraffuren und geätzten Linien die Körperlichkeit seiner mit inniger Liebe und forschendem Interesse porträtierten Modelle noch einmal detailreich zugespitzt.

"Closer" heißt eine Ausstellung in Berlin mit über 50 seiner selten gezeigten Radierungen. Ergänzt wird die Schau um Ölbilder und Aquarelle, die wie eine fremdartige Zugabe wirken und allenfalls andeuten, welche Bedeutung die Radierung für den Maler hatte: Hier ergänzen und überlappen sich verschiedene künstlerische Ausdrucksformen, oft arbeitet Freud mit denselben Modellen und Motiven. Die Radierung ist für Freud keine Vorstudie, sondern sie hat eine eigenständige Kraft, die nicht mehr geändert werden kann.

Warum sollte Freud auch etwas ändern? Wenn er seine von dem nahenden Tod gezeichnete Mutter für die Ewigkeit festhält, oder wenn er seine Lieblingsmodelle, die üppige Sue Tilley oder die androgyne Susanna Chancellor, in ihrer obsessiven Nacktheit und verletzlichen Schönheit porträtiert, stimmt alles, wird der biologisch sezierte, mit schlaffen Genitalien und verlebter Haut auf realistische Weise porträtierte Mensch in seiner Individualität und Einzigartigkeit erfasst.

Die wundersame Ausstellung gleicht einer späten Heimkehr des Künstlers. Denn der Enkel Sigmund Freuds musste mit seiner Familie 1933 aus Nazi-Deutschland fliehen, wurde 1939 britischer Staatsbürger und wurde zu einer zentralen Figur der sogenannten "Londoner Schule", zu der auch Francis Bacon und David Hockney gehören. Sie alle beschäftigen sich, allen zeitgeistigen Anfeindungen zum Trotz, weiterhin mit dem Gegenständlichen. Von seinen Kollegen hat sich Freud am konsequentesten dem autobiografisch fundierten Porträt verschrieben, hat immer wieder seine Modelle in sein Atelier zu oft zermürbenden, mitunter auch tagelangen Sitzungen gebeten. Wenn er seine Künstler-Klause verließ, dann nur, um in seinem Garten die Bäume, Blumen, Disteln zu malen oder auf die Kupferplatte zu ritzen. Oder um (2001) Königin Elisabeth II. auf die Leinwand zu bannen. Doch wichtiger als die Queen dürfte ihm sein geliebter Windhund Pluto gewesen sein. Unzählige Male hat Freud ihn in sein Werk geschmuggelt. Auch in das "Doppelporträt", das als Finale der Ausstellung fungiert und den Jagdhund neben die erschöpfte Susanna Chancellor bettet.

Für Freud war die Radierung keine bloße Abwechslung, kein Zeitvertreib. Er hat die Kupferplatte wie eine Leinwand behandelt, sie auf die Staffelei gestellt und - als würde er ein Bild malen - sich im Stehen daran zu schaffen gemacht, um dem Geheimnis des Daseins und der Natur auf den Grund zu kommen. Lucian Freud hat einmal gesagt, er erwarte, dass das Kunstwerk "erstaunt, verstört, verführt, überzeugt". Genau das ist jetzt in Berlin zu sehen und zu erleben. Grandios.

(RP)
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