Venedig Die unvergesslichen Bilder der Biennale

Venedig · Das Kunst-Festival von Venedig entwirft eine Fülle von Gegenwelten. Auch Klimawandel und Kapitalismus zählen zu den Themen.

Nach einem roten Faden muss man nicht lange suchen. Im japanischen Pavillon liefert Chiharu Shiota gleich den Schlüssel mit. Genauer: 180 000 Exemplare, die sie über Monate bei Freunden und Fremden eingesammelt hat. Die Installation der in Berlin lebenden Japanerin lässt den Besucher in ein blutrotes Fadenknäuel eintauchen, in dem die eingewobenen Schlüssel imaginäre Türen öffnen. Inmitten des bildstarken Raums ist eine alte Holzbarke gestrandet. Von den Insassen fehlt jede Spur. Nur im Kopf des Betrachters klopfen aktuelle Nachrichtenbilder an, um von den afrikanischen Flüchtlingsdramen zu erzählen, die sich ganz in der Nähe an der italienischen Küste abspielen.

Das Gefälle zwischen Arm und Reich hätte nicht deutlicher hervortreten können als in den Pavillons von Kenia und Costa Rica, die kurz vor der Eröffnung gecancelt wurden. Die Miete für den Auftritt, die in den Palazzi im Stadtzentrum bis zu 150 000 Euro für die sechs Monate der Ausstellungszeit betragen kann, überstieg die Möglichkeiten der Ausrichter. Sie ließen kurzerhand die Künstler, darunter auffällig viele Italiener und Chinesen, für ihre Teilnahme bezahlen. Ein zweifelhaftes, wenn auch nachvollziehbar verzweifeltes Gebaren. Das will gar nicht zu dem kritischen Ton einer Biennale passen, die sich genau jener Problemlagen des ökonomisch auseinanderdriftenden Planeten annehmen wollte.

Da verwunderte es kaum noch, dass ein auf einer kleinen Klosterinsel versteckter Pavillon wie der von Armenien mit dem Goldenen Löwen für die beste nationale Präsentation geehrt wurde. Aus künstlerischer Perspektive eher enttäuschend, aber dafür kompatibel mit dem Anspruch des Hauptkurators Okwui Enwezor. Die politisch akzentuierte Botschaft geht nicht nur in Richtung Türkei, die den genau vor 100 Jahren begangenen Genozid an den Armeniern bis heute leugnet. Die zart verhuschten Arbeiten der Gruppenausstellung weisen auch über die eigene Geschichte hinaus. Sie kreisen um Vertreibung und Verlust der heimischen Identität, ein Themenkomplex, der gerade jetzt vielen in ihrer Existenz bedrängten Völkern bekannt vorkommen dürfte.

Ohnehin üben sich viele Pavillons in der Austreibung einer drohenden Katastrophe. Céleste Boursier-Mougenot lässt Pinienbäume samt Wurzeln um den französischen Pavillon auf Wanderschaft gehen. Pamela Rosenkranz begnügt sich mit einem übervollen Swimmingpool, in dem sich eine chemisch duftende Suppe mit der Farbe von menschlicher Haut den Anschein des Humanen gibt. Bei den Russen starrt der riesige Kopf eines Kampffliegers ratlos in die Menge, und im amerikanischen Pavillon wähnt man sich bei Joan Jonas bereits in der Postapokalypse, die wie ein utopischer, aber auch reichlich materialistischer Hippie-Traum daherkommt. Ein nach innen gespiegelter venezianischer Palazzo inklusive.

Die Problemzone Islam ist ebenfalls präsent, wenn auch nicht mehr lange. Die "Moschee", die Christoph Büchel für den isländischen Pavillon in der profanisierten Kirche Santa Maria Della Misericordia eingerichtet hat, muss schließen. Den Bewohnern der Altstadt war die Konfrontation mit der moslemischen Gemeinde, die bisher nur in industriellen Außenbezirken zu finden ist, kein Grund, einen Dialog zu eröffnen. Im Gegenteil: Die Gottesdienste waren unerwünscht.

In der Hauptausstellung in den Giardini hilft Beten nicht weiter. Gleich am Eingang hustet sich ein seltsam deformierter Mann das Blut aus dem Körper. Der Film von Christian Boltanski schwelgte offenbar schon 1969 in einer nicht weiter definierten Untergangsstimmung. Konkreter wird es bei Wangechi Mutu. Die in New York lebende Kenianerin lässt in ihrer panoramischen Videoinstallation "The End of carrying All" eine schwer bepackte Afrikanerin gegen einen Insektenschwarm ankämpfen, während nebenan der Japaner Tetsey-a Ishida auf seinen Gemälden im Stil des Sozialistischen Realismus die Gattung Mensch recycelt.

Ohne Menschen kommen die Naturbilder des aus Ghana stammenden John Akomfrah aus. Präsent sind sie in seinem atemberaubenden Video trotzdem. Als jene Spezies, die der Erde so lange zusetzt, bis alle ihre Bewohner erst ausgebeutet und dann verschwunden sind. Die Malerin Marlene Dumas kann da nur einen Schlussstrich ziehen. Ihrer prophetischen Ansammlung von Totenköpfen kann niemand widersprechen.

Einen ganzen Raum nimmt Andreas Gursky in Beschlag. Seine Großformate von Börsen, Massenproduktion in China und dem bedrohten Wunderwerk der Ozeane handeln gleich mehrere Stichwörter ab: vom Klimawandel bis zu den Exzessen des global agierenden Kapitalismus. Katharina Grosse, auch sie Professor an der Kunstakademie Düsseldorf, bekommt in der Fortsetzung der Schau im Arsenale ebenfalls ihren Auftritt. Mit einem Schutthaufen in Regenbogenfarben, den manch einer als gut gelaunten Ruinen-Kitsch titulierte.

Die deprimierenden Zukunftsaussichten transformieren viele Künstler in Gegenwelten, die zum Ausstieg aus der Jetztzeit animieren. Die rätselhaften Objekte etwa, die Ricardo Brey mit unzähligen kunstgeschichtlichen Verweisen auflädt, bieten eine willkommene Gelegenheit zum Aufatmen. Der Kubaner, der im flämischen Gent lebt, gewährt einen Einblick in seine schwarzen Boxen, in denen Messgeräte auf Eierschalen treffen und Spielkarten einen Globus aus Perlen umwerben. Perlen spielen auch in der Installation von Mika Rottenberg die Hauptrolle. Ihre Betroffenheit über die mitunter immer noch unmenschlichen Arbeitsverhältnisse der Gegenwart trägt die Argentinierin mit Wohnsitz in New York zur Abwechslung mit reichlich Humor vor. Zuerst betritt man eine Geschäftskulisse, in der Perlenschmuck verkauft wird, um dann in einem surreal inszenierten Film über die mit schwerer körperlicher Arbeit verbundene Gewinnung von Perlen informiert zu werden.

Was es mit dem monumentalen Auftritt von Georg Baselitz auf sich hat, der mit einer erwartbar kopfstehenden Männerschar vertreten ist, darüber kann man nur rätseln. Soll es etwa um das Individuum gehen, dem angesichts des prekären Stands der Dinge der Boden unter den Füßen abhanden kommt?

Zu den venezianischen Kunst-Trampelpfaden gehören inzwischen obligatorisch die vielen "Kollateral"-Ausstellungen. Von Okwui Enwezor genehmigt oder auch ohne den glanzvollen Beinamen. Ein Muss, wie die endlosen Schlangen vor dem Palazzo Fortuny beweisen, ist der Besuch der stets opulent von Axel Vervoordt inzenierten Schauen. Diesmal geht es um das Thema "Proportion" mit einem gewohnt einfallsreich und stilvoll kombinierten Allerlei aus ägyptischen Miniaturen und alten Theatermodellen, Buchkostbarkeiten und meditativen Videos. Auf der Insel Giudecca gibt es zu guter Letzt ein Wiedersehen mit der Düsseldorferin Katharina Fritsch. Sie ist in der ersten Schau der Vanhaerents Art Collection außerhalb Belgiens zu sehen. Der Brüsseler Sammler Walter Vanhaerents hat sich zum 70. Geburtstag eine prestigeträchtige Bühne unter dem Titel "Heartbreak Hotel" gegönnt. Verlust, körperliches Leiden und Entfremdung geben die Stoßrichtung vor. Eine eher depressive Gefühlslagen vereinende Mixtur, in der sich auch der "Händler" von Katharina Fritsch tummelt. Diabolisch und getarnt durch ein penetrantes Ganzkörper-Pink, mimt er regungslos den Wolf im Schafspelz, dem man im Dunkeln des Kunstzirkus lieber nicht begegnen möchte.

(RP)
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