Die Welt ist auch nur ein Dorf

Der US-amerikanische Bestsellerautor Paul Auster sammelt wahre Geschichten über die seltsamen und fast unglaublichen Wechselfälle des Lebens: "Das rote Notizbuch" erscheint jetzt erstmals vollständig übersetzt.

Das Leben hängt am seidenen Faden, der Zufall regiert die Welt, und wer du bist und was du wirst, hängt oft allein davon ab, welche Entscheidung du an einer unscheinbaren Wegmarke triffst oder ob du die Telefonnummer wählst, die auf einem Zettel notiert ist, den du im Hotel unter einem Stuhl findest. Es gibt wohl kaum ein Buch des jüdisch-amerikanischen Autors Paul Auster, in dem der Zufall nicht eine entscheidende Rolle spielt und darüber wacht, ob die Protagonisten weiter in einer Welt leben dürfen, die ohnehin nicht aus Wirklichkeit, sondern aus Sprache gebaut ist.

Zuletzt hatte Auster in seinem 1200-seitigen Opus magnum "4, 3, 2, 1" sein Lebensmotto und Schreibimpuls - "Was wäre geschehen, wenn ..." - am Beispiel von Archibald Ferguson gleich viermal durchgespielt und furios vorgeführt, welche Variationen möglicher Identitäten eine Lebensgeschichte haben kann, wenn man an einer bestimmten Stelle aus dem Tritt gerät, dem Schicksal in die Quere kommt oder dem Tod noch einmal von der Schippe springt.

Paul Auster ist 14, als ihm schmerzlich bewusst wird, wie wenig ein Leben wiegt und wie schnell es vorbei ist: Bei einer Jugendfreizeit geraten er und ein Freund in ein heftiges Gewitter. Während sein direkt neben ihm stehender Freund vom Blitz erschlagen wird, kommt Paul mit dem Schrecken davon. Auster hat dieses traumatische Erlebnis oft erzählt und vielfach literarisch variiert. Natürlich findet sich diese Geschichte auch in der Sammlung seltsamer Wechselfälle des Lebens, die er schon vor Jahren unter dem Titel "Das rote Notizbuch" veröffentlicht hat und die jetzt erstmals vollständig auf deutsch erscheint: Auster berichtet von kuriosen Begegnungen und oft bizarren Zufällen, vollkommen verrückt erscheinenden Ereignissen, die jeder Logik spotten und doch, darauf besteht er mehrfach, nicht erfunden, sondern tatsächlich wahr sind.

Als es ihm in jungen Jahren einmal besonders dreckig geht und er als unbekannter Autor fast am Verhungern ist, taucht im letzten Moment ein Retter am Horizont auf und will ihn unbedingt zum Essen einladen. Als er sich einmal abends im Stadion bei einem Baseballspiel bückt, um eine am Boden liegende Münze aufzuheben, ist es - das kann eigentlich nicht sein - dieselbe Münze, die er morgens vor seinem Haus in Brooklyn verloren hat.

Das vergriffene Buch, nach dem sein Freund seit langem vergeblich sucht, taucht plötzlich in den Händen einer fremden Frau auf, die es gerade auf der Straße, lässig an ein Marmorgeländer gelehnt, liest. Als der Freund die Frau anspricht und ihr erzählt, wie sehr ihm an dem Buch liegt, antwortet sie: "Nehmen sie meins." Und als der überraschte Mann zur Frau sagt: "Aber das gehört doch Ihnen", meint die Frau nur lächelnd: "Es hat mir gehört, aber jetzt bin ich damit fertig. Ich bin heute hierher gekommen, um es Ihnen zu schenken."

Es sind nicht nur ganz und gar unglaubliche, sondern auch unglaublich schöne und verwirrende Geschichten, die Auster aus seinen Erinnerungen ans Tageslicht emporzieht und die von Menschen erzählen, die auf wundersame Weise mit seinem Leben verbunden sind. Eine handelt von zwei jungen amerikanischen Frauen, die in Taiwan Chinesisch studieren und feststellen, dass ihre in New York lebenden Schwestern sich zwar (noch) nicht kennen, aber im gleichen Haus wohnen. Eine heißt Siri Hustvedt. Auster wird sie kennenlernen und heiraten. Beide werden viele Jahre später von einer fremden Frau in einer Buchhandlung angesprochen, die ihnen erklärt, dass ihre Schwester und Siris Schwester zusammen in Taipeh studiert haben.

Die Welt ist ein Dorf. Und der Mensch ist klein. Aber die Literatur ist groß. Und Paul Auster ist einer der großen Autoren, einer, der in den Falten der Zeit das Verdrängte und in den Schwarzen Löchern der Fantasie das Vergessene sucht und uns davon erzählt, warum das Schicksal ungewiss ist, aber einen Namen hat: Zufall.

(RP)
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