Dunkle Geheimnisse, schräge Helden

Sie rebellieren, suchen ihren Weg, ihre Vergangenheit, ihren Vater. Die neuen Helden kämpfen nicht in Fantasiewelten, sondern im Hier und Jetzt. Fünf Bücher, die zeigen, wie schön und spannend man übers Erwachsen-Werden schreiben kann.

Sie sind schön, sie sind sportlich, sie sind reich. Die Sinclairs sind Vorzeige-Amerikaner, wie wir sie aus seichten Fernsehserien kennen. Doch damit endet die heile Welt. E. Lockharts Jugendroman "Solange wir lügen" reißt die Fassade ein. Cadence Sinclair, fast achtzehn Jahre, ist Spross der wunderhübschen Geldadel-Dynastie. Die Ich-Erzählerin stellt sich als Besitzerin eines "gut genutzten Bibliotheksausweises" vor. Sie sagt über sich: "Schwachköpfe kann ich nicht leiden. Ich mag es, wenn etwas mehrere Bedeutungen hat." Nach einem Unfall auf der Privatinsel der Familie leidet Cadence an Migräne und Gedächtnisverlust. Nach und nach entdeckt sie, was in jenem "Sommer fünfzehn" geschah und wie sie ihre erste Liebe verlor. Nüchtern, fast zynisch, in staccato-artigen Sätzen erzählt sie die schicksalhaften Ereignisse, die keinesfalls in einer munteren Detektivgeschichte münden.

Die Frage hinter "Solange wir lügen" lautet: Wie viel Wahrheit können wir ertragen? Das Thema hat Tradition in der Jugendbuchliteratur: Schon Holden Caulfield aus J.D. Salingers Klassiker "Fänger im Roggen" rebelliert gegen die Verlogenheit der Erwachsenen-Welt.

Die fünf Helden von "Finstermoos" machen sich auf die Suche nach der Wahrheit. Dabei werden Nic, Basti, Valentin, Mascha und Luzie in einen Strudel gefährlicher Ereignisse hineingezogen und landen bei den Schatten ihrer Vergangenheit. In dem Bergdorf Finstermoos mit dem gediegenen Hotel Kronenhof und der Eventagentur "Off Limits" ist nichts, wie es scheint. Es beginnt harmlos: Luzie und Basti müssen ihre Liebe geheim halten, weil ihre Väter verfeindet sind. Valentins Vater, Baulöwe aus Berlin, will in Finstermoos bauen, stößt aber auf Widerstand. Arbeiter finden auf seinem Baugrundstück eine Babyleiche. Mysteriöse Unfälle häufen sich. Dann verschwindet Maschas Mutter. Nic, Basti, Valentin, Mascha und Luzie suchen sie in den Bergen und geraten in Gefahr.

In klassischer Krimi-Manier verflicht Autorin Janet Clark über vier Thriller-Bände gekonnt die Schicksale der Personen. Geschickt verhakt sie die Perspektiven der Hauptfiguren und die Zeitstränge. Ein Spannungsmoment jagt den nächsten bis zur nahtlosen Aufklärung.

Von der Spannung zwischen gegensätzlichen Charakteren lebt Erin Jade Langes Roman "Halbe Helden": Dane, exzellenter Schüler und notorischer Schläger, steht an seiner Schule kurz vor dem Rauswurf. Billy D. hat das Down-Syndrom, ist gerade zugezogen und besucht dieselbe Schule.

Um dem Schulverweis zu entgehen, erklärt sich Dane bereit, sich um den neuen Schüler zu kümmern. Schon bald haben die beiden mehr gemeinsam als nur ihren Schulweg. Dane berührt die ehrliche, geradlinige und manchmal naive Art von Billy D. Dieser möchte von Dane lernen, wie man sich prügelt, und er will, dass er ihm auf der Suche nach seinem Vater hilft. Beide verbindet, dass sie ohne Vater aufwachsen. Schnodderig im Ton, witzig im Detail, ehrlich, herzerwärmend und traurig erzählt Jade von der ungleichen Freundschaft, von der subtilen, politisch korrekten Diskriminierung behinderter Menschen und von der Realität zerbrochener Familien.

Um das Erwachsen-Werden geht es auch in Kirsten Fuchs' Roman "Mädchenmeute". Sprachlich prägnant und mit Wortwitz lässt die Berliner Autorin die 15-jährige Charlotte Nowak von ihren Ferien erzählen: "Es war der Sommer, in dem ich aufhörte, einen knallroten Kopf zu bekommen, wenn ich mehr als drei Wörter sagen sollte. Ich hatte am Ende eine Narbe an der Hand und einen ersten Kuss bekommen." So beginnt der Roman.

Charlotte wird von ihren Eltern in ein Survival-Camp geschickt. Doch ihre Betreuerin verschwindet, im Camp passieren allerlei seltsame Dinge. Sieben Mädchen sind auf sich gestellt. Sie beschließen, die Ferien nicht abzubrechen, sondern sich auf eigene Faust ins Erzgebirge durchzuschlagen und zwei Wochen Freiheit zu genießen - ohne Smartphones, ohne Verpflichtungen, ohne Eltern. Auf ihrer Flucht kapern sie einen Tiertransporter mit sieben Hunden, die ihre Begleiter werden. Zurückgeworfen auf sich selbst, lernen sie, in der Natur zu überleben und ihren Platz innerhalb der Gruppe auszufechten. Dabei flippert "Mädchenmeute" zwischen tragikomischem Ernst und sarkastischer Heiterkeit hin und her. "Entweder wusste sie nicht, wie man liebevoll guckt, oder sie wollte wirklich aussehen wie ein zwischen die Tür geratenes Frettchen." Ein fulminantes Jugendbuch.

Ein Briefroman in Zeiten von Twitter und WhatsApp? Ja, das geht - sogar gut, wenn man Lily Lindners "Was fehlt, wenn ich verschwunden bin" liest. Die Briefe zweier Schwestern wirken kein bisschen aus der Zeit gefallen. So sehr nimmt einen die leise Geschichte gefangen, die federleicht und wortgewaltig daherkommt: April hat Magersucht und befindet sich in einer Klinik. Phoebe ist ihre jüngere, neun Jahre alte Schwester. Der direkte Kontakt ist den beiden Schwestern untersagt. Doch um sich nahe zu bleiben, schreiben sie sich Briefe aus dem Alltag, über ihre Sehnsucht, die Krankheit und Aprils Gefühl, nicht in dieses Leben zu gehören. Schön wie der Sonnenuntergang nach einem grauen Wintertag.

(RP)
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