Berlin Ein Film über das Grauen auf Utøya

Berlin · Darf man einen barbarischen Anschlag verfilmen? Ein Norweger meint, man muss.

Gerade teilen Sie noch eine Waffel, dick mit Marmelade bestrichen. Gleich soll es zum Grillen gehen. Ihre Kleider sind klamm, die Finger schmutzig, die Haare ungekämmt, Zeltlager-Feeling. Plötzlich fallen Schüsse. Jugendliche rennen durch den Wald. Alle stürmen in eine Hütte, laufen wieder raus, verstecken sich im Wald, rennen weiter, stolpern, rennen. Und als sie die ersten Erschossenen sehen, die ersten Freunde blutend am Boden liegen, begreifen sie, dass das keine Übung ist, kein Spiel. Es ist der Beginn von 72 Minuten Hölle.

Am 22. Juli 2011 überfiel der Rechtsradikale Anders Breivik das Zeltlager der norwegischen Arbeiterjugend auf der Insel Utøya. Er schoss 72 Minuten auf die fliehenden Jugendlichen, tötete 69 von ihnen, stürzte junge Menschen in ein Grauen, das man sich kaum vorstellen kann. Kann man daraus einen Spielfilm machen? Sollte man?

Der norwegische Regisseur Erik Poppe tut es in denkbar aufrechter Weise. Genau darum kann man innerlich nicht auf Distanz gehen, sich nicht in innere Anschuldigungen gegen sein Projekt flüchten. Seine Drehbuchautorinnen und er haben mit vielen Überlebenden gesprochen und deren Erleben zu einer fiktiven Geschichte verdichtet. Niemand solle sich persönlich wiedererkennen müssen, doch wahr finden, was er sah. Die Betroffenen sahen den Film vor der Fertigstellung, es ist auch ihr Werk. Zudem traf der Regisseur eine entscheidende ästhetische Entscheidung: Er hat seinen Film als One-Shot gedreht, als ungeschnittenen Dreh in einer einzigen Plansequenz. Das ist eine enorme Herausforderung für die Schauspieler, die keine Fehlversuche bekommen, die Geschichte durchleben, als wäre sie real. Und für den Kameramann, der das alles ohne Unterbrechung beobachten, jede Einstellung intuitiv wählen muss. Dieser Druck überträgt sich auf den Zuschauer, er ist Teil der physischen Beklemmung, die man im Kinosaal empfindet.

Sebastian Schipper hat das in "Victoria" mit einer Bankraubgeschichte gemacht und war damit bei der Berlinale erfolgreich. Doch bei "Utøya" ist die ästhetische Entscheidung auch eine ethische. Der Regisseur hat seine Schauspieler in eine inszenierte Hölle gejagt, die der realen nahekommen sollte. Und er jagt auch seine Zuschauer in diese Hölle, es ist fast unerträglich, seinen Film anzuschauen, gerade weil er ohne alle dramaturgischen Kniffe auskommt, keine Musik einsetzt, nicht in Nahaufnahmen verharrt, nicht manipulieren will. Es ist das wahrhaftige Grauen auf Utøya, das der Zuschauer miterlebt - aus der Sicht der Opfer. Nur aus ihrer Sicht. Wer sich das antun will, kann nachvollziehen, was die Opfer erlebt haben. Er kann es mitempfinden.

Erik Poppe versteht das als eine Art filmisches Denkmal für die Überlebenden, die Hinterbliebenen eines rechtsradikalen Anschlags, der für Norwegen ein Trauma geblieben ist. Sieben Jahre ist der Anschlag her. Zu früh, um den Film zu machen, wurde Poppe bei der Berlinale gefragt. "Wenn der Film nicht mehr weh tut, wäre es zu spät, ihn zu machen", antwortete er.

(dok)
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