Neues Buch Ein Jahr Welt verändern

Die sozialen Unterschiede auf dem Globus werden immer krasser, Benachteiligte sind weltweit auf der Flucht. Doch es gibt Leute, die freiwillig in ärmeren Ländern soziale Dienste tun. Welche Spuren hinterlässt das?

Ann-Kathrin Ott, 24, aus Bernau zum Beispiel. Sie ist in einer Region aufgewachsen, in der andere Ferien machen, inmitten der Tiroler Berge, dieser urgewaltigen Natur. In einem Montessori-Kinderhaus hat sie als Erzieherin gearbeitet und hätte sich gut einrichten können in ihrer idyllischen Heimat. Doch da war immer etwas in ihrem Wesen, das sie selbst ihren "idealistischen Zug" nennt und als eine Traurigkeit beschreibt, eine Bestürzung darüber, dass es so vielen Menschen in der Welt so viel schlechter geht.

Ann-Kathrin Ott wollte dieses Gefühl irgendwann nicht mehr beiseiteschieben. Sie hatte schon einmal ein Praktikum auf Korsika gemacht und dort zum ersten Mal dieses euphorische Freiheitsgefühl empfunden, dass ihr die Welt offen steht. Offen, um zu helfen.

Vielleicht hat ein Umdenken begonnen. Vielleicht lassen sich die Folgen eines globalen Konkurrenzsystems, an dem die Menschen nur sehr ungleich teilnehmen können, nicht länger verdrängen, seit Verzweifelte in Massen an Europas Küsten aus den Schlauchboten steigen. Oder im Mittelmeer ertrinken. Jedenfalls gibt es immer mehr Menschen, die den alten Glücks-Versprechen nicht mehr trauen. Die nicht glauben, dass mehr Erfolg, mehr Konsum, mehr Vergnügen sie glücklich machen. Sie spüren, dass in Wahrheit ein ernstgemeintes Gespräch, eine achtsame Begegnung oder die Erfahrung, einem anderen zu helfen, wirklich bereichern. Dass Sein wichtiger ist als Haben.

Manche von ihnen wagen sich darum hinaus in die Welt, lassen Familie, Freunde, den gewohnten Lebensstandard für eine Zeit hinter sich, arbeiten in Sozialprojekten, leben mit den Armen - und suchen nach dem anderen Glück.

Wenn in diesen Tagen wieder die Rede sein muss von den Randalierern vor den Flüchtlingsheimen, von Brandstiftern, den geistigen und denen, die tatsächlich Feuer legen, dann ist es genauso wichtig auch von jenen zu hören, die anders denken. Die eine offene Gesellschaft wollen, von einer gerechteren Welt träumen - und sich dafür einsetzen, ganz konkret.

Wir sind solchen Menschen begegnet, haben die Teilnehmer eines Jahrgangs des Programms "Jesuit Volunteers" der Jesuitenmissionen in Deutschland, Österreich und der Schweiz vor ihrem Auslandseinsatz getroffen, haben über ihre Motivation, ihre Erwartungen, ihre Befürchtungen gesprochen - und über abstrakte Fragen wie: Was ist Armut? Was bedeutet Gutes tun? Was ist Glück?

Und wir haben die Freiwilligen mit den Mitteln der Fotografie porträtiert, haben ihre Gesichter aufgenommen in Momenten, da sie scheinbar neutral in die Kamera schauen und doch verraten, wie sie auf die Welt blicken. Dann sind die Freiwilligen aufgebrochen nach Afrika, Asien, Südamerika und in die armen Regionen Europas. Ein Jahr später, zurück in Deutschland, haben wir sie wieder befragt, sind ihnen erneut mit der Kamera begegnet. Und die Spuren eines Jahres in den so ungleichen Realitäten der Welt wurden sichtbar.

Manchmal sind es scheinbar leichte Verschiebungen. Wenn etwa Ann-Kathrin Ott vor dem Einsatz bei der Frage nach ihren Helden ihre Urgroßmutter nennt, weil die 40 Sommer lang auf der Alm Butterkäse gemacht und glücklich gelebt hat. Luxus definiert sie vor der Abreise als "zufrieden sein". Dann lebt Ott ein Jahr in Simbabwe, arbeitet in einem Bildungsprojekt und erlebt dort Frauen, die Gewalt und Schicksalschlägen zäh standhalten, die sich ihre Wärme und Nächstenliebe bewahren und doch kaum Chancen haben auf ein anderes Leben. Als Ott nach der Heimkehr Luxus definieren soll, sagt sie: "Seine Träume verwirklichen zu können."

Wer sich der Welt aussetzt, wer die Folgen der Globalisierung an sich heranlässt, miterlebt, was wirtschaftliches Gefälle tatsächlich bedeutet, ist zunächst schockiert von der Armut in den Slums Südamerikas oder den Lebensbedingungen in den Dörfern Afrikas und Indiens. Doch dann erleben die Freiwilligen auch Alltag unter einfachsten Bedingungen und schauen bald hinter die Oberfläche der Armut. Auf das, was viel schwerer wiegt: die Unfreiheit, die Gewalt, die Perspektivlosigkeit, die arme Menschen zermürbt.

Das verändert ihre Werte und Vorstellungen von Begriffen wie Armut. Nach einem Jahr in Rumänien sagt die Abiturientin Julia Leimeister etwa: "Armut ist, wenn man geistig nicht gefordert wird, keine Herausforderung hat und abstumpft." Und Christian Fußel, vor dem Einsatz Mitarbeiter bei der Telekom, erzählt von Begegnungen mit Leuten, die sich aufgegeben haben: "Das habe ich in Mexiko schon an den Gesichtern gesehen, wenn Menschen den Glauben daran verloren haben, ihr Leben noch ändern zu können." Solche Blicke bleiben im Kopf.

Natürlich ist ein Auslandsjahr auch Abenteuer, und viele Freiwillige reizt der Schritt in die Unabhängigkeit. Doch längst gehen nicht mehr nur Schulabgänger zum sozialen Dienst ins Ausland. Von den knapp 8000 Freiwilligen 2013 waren elf Prozent 21 Jahre und älter. Tendenz steigend, obwohl nur wenige Organisationen wie die Jesuiten keine Altersgrenze setzen. Ältere Freiwillige wollen etwas von dem weitergeben, was sie selbst studiert und gelernt haben. Viele suchen aber auch bewusst den Ausstieg aus einem Leben nach westlichem Standard, in dem es viele Bequemlichkeiten gibt, aber auch Leistungsdruck, Zeitdruck, Konkurrenzdruck. Also wenig Freiraum für das, was am Ende zählt: Mitmenschlichkeit, Freude, Wohlsein. Manchen fällt das auf, wenn ihre Karriere eigentlich gerade Fahrt aufnimmt oder wenn die Rente Ruhe bringt. Und dann fangen sie noch einmal an - als Lernende in einem fremden Land, als Suchende nach dem anderen Glück, als Freiwillige im Einsatz.

Ein Jahr Leben in benachteiligten Ländern lehrt Schrecken über das wahre Ausmaß der Armut weltweit. Und es lehrt Einsicht in den Segen der Einfachheit, die das Leben entschlackt, den Geist öffnet und nicht ärmer, sondern reicher macht. Davon erzählen Freiwillige nach ihrem Auslandsjahr. Zum Beispiel die auf den folgenden beiden Seiten.

(RP)
Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort