Ein Mann, ein Maler, ein Jahrhundert

K. O. Götz zum 100. Geburtstag, den er heute in seinem Haus im Westerwald feiert. Zahlreiche Ausstellungen ehren den Großmeister des deutschen Informel.

Wie fühlt sich ein Leben an, das vor 100 Jahren begann? Ein Leben, das weiter lodert und fiebert zwischen ruhigeren Strecken und Momenten?

Karl Otto Götz erlebt heute diesen 100. Geburtstag in seinem Zuhause in Wolfenacker (Westerwald). Im Haus ist es lebendig geworden in den vergangenen Wochen, Honoratioren und internationale Journalisten erhalten Einlass. Seine Frau, die Malerin Rissa, umhegt ihn. Sie spricht für ihn, drückt aus, was er meint, was sie gemeinsam meinen und denken. Längst sind die beiden untrennbar — selbst das gegensätzliche Werk der beiden ehemaligen Düsseldorfer Akademieprofessoren bewegt sich aufeinander zu. In den lichten Räumen des großzügigen Wohnhauses fügt es sich zur Einheit im Geiste.

Karl Otto Götz ist auch zwei Tage vor seinem Geburtstag guter Stimmung, obwohl er mittlerweile die Welt nur noch in Grau-schwarz-Abstufungen wahrnehmen kann. Ab und zu sehe er Gestrüpp, sagt er. Er lacht und kalauert, rezitiert fremde und eigene Texte, packt Erinnerungen auf den Tisch. Scharf und zynisch kann er in seinen Bewertungen sein. Mit seiner Erblindung hat er gelernt umzugehen. Zum Glück sind ihm die inneren Bilder nicht abhanden gekommen, Erkenntnisse, Blitze, Rhythmen, Zäsuren, Farben — die Dinge, die seine Kunst nähren. "Es sind Halluzinationen, Blumen, Bäume, ein leuchtender Garten. Vermutlich meine letzten Werke." Seine Gedanken umkreisen die Arbeit. Das war schon immer so, zum Erschaffen von Kunst hat er sein Leben bestimmt. Wenn er daheim in seinem Lounge Chair sitzt, dann denkt er tief nach, schickt die Fantasie auf Reisen. Mitunter nickt er ein.

Der international gefeierte Künstler wollte unbedingt die Hundert erreichen. Vor einigen Jahren besuchte er nahe seiner Heimatstadt ein belgisches Kloster. Dort steckte er, der Agnostiker ist, eine Kerze an. Gute Freunde hatten ihn dazu ermuntert, das würde die Lebenszeit verlängern. Damals blieb er noch ein wenig länger in der Klosterkirche. Gierig nach Leben. Heute spricht K.O. Götz davon, 104 werden zu wollen, manchmal träumt er laut von seinem 120. Geburtstag. "Das tut er, um sich selbst zu ermutigen", sagt seine Frau Rissa.

Was dem gebürtigen Aachener zu seinen besten Zeiten nicht immer vergönnt war, ist jetzt eingetreten: Die erhöhte Aufmerksamkeit und der wertschätzende Blick auf das Werk des Informellen, das einzig und unvergleichlich da steht in der deutschen Nachkriegszeit.

Als Karl Otto Götz als Luftnachrichtensoldat für Deutschland in den Krieg zog — von 1941 bis 1945 war er in Norwegen stationiert —, hatten die Nazis bereits ein Mal- und Ausstellungsverbot über ihn verhängt. Das war 1935 ausgesprochen worden, nachdem der damals 21-Jährige mit einem Künstlerfreund eine moderne Kunstausstellung in der Auslage eines Schreibwarengeschäfts ausgerichtet hatte. Die Reaktion erfolgte in Gestalt des örtlichen NS-Kunst-Obmannes, der Götz mehrmals im Atelier besuchte und ihn aufforderte, sich künstlerisch der "neuen Zeit" anzupassen. Das kam für ihn nicht infrage. Nur noch schöne, deutsche Landschaften zu malen — und nicht seine verrückten, mit Farbe bespritzten Bilder?

Götz war ein leiser Revolutionär, einer, der nach den Erfahrungen des Dritten Reichs gegen den Strich leben wollte. Als Deutschland daranging, in wohlgeordnete Verhältnisse zurückzufinden, fühlte er sich anders als die meisten. Wie erlöst. Ganz frei. "Die Alten sind borniert", schrieb er in einem Brief, 1951, an seinen Freund, den Schriftsteller Franz Mon, "und auch blind und hoffnungslos verkorxt und sagen nur deshalb nichts, weil sie zu müde sind." Er wollte alle Reglements, die diktierte Ordnung überwinden und brachte den Überschwang, das Unberechenbare auf seine Leinwände. Die bildnerische Formensuche ging weiter. Noch während der Kriegsjahre hatte er viel experimentiert, mit seiner ersten Frau, Anneli Hager, Photogramme hergestellt, mit Spritztechnik gemalt. Früh fühlte er sich vom Surrealismus inspiriert und war als erster Deutscher Mitglied der Künstlergruppe Cobra. Trotz der Materialknappheit in jenen Jahren war die künstlerische Ausbeute groß. Götz schuf abstrakte Holzschnitte in organisch-fließenden Formen, Figurinen und Vogelwesen auf Monotypien, Leuchtobjekte, farbige Lackarbeiten, bemalte Keramik. 1948 gab er die Kunstzeitschrift "META" heraus, in der er auch selbstverfasste Gedichte publizierte. Rascher als jeder andere deutsche Künstler wurde er in Frankreich und Holland begrüßt, durfte im Ausland ausstellen, war früh im deutschen Pavillon auf der Biennale in Venedig vertreten.

Die Ausgangsperspektive seiner Malerei beschreibt er rückblickend in einem Interview mit dem Frankfurter Kunstverein: "Wir wollten damals eine frische, spontane Malerei, den surrealistischen Programmpunkt vom Halbautomatismus auch in der Malerei wahr machen. Dadurch versuchte ich, die Enge der eigenen Vorstellung zu sprengen und die allzu bewusste Kontrolle auszuschalten." Götz war auf der Suche nach dem Poetischen ohne Gegenständlichkeit. Seine Art zu malen brach mit allen Traditionen. Er arbeitete auf dem Boden — oft trug er eine Gasmaske — unter Einsatz des ganzen Körpers. "Kein Gegenstand, nicht denken, ganz schnell, so schnell wie möglich malen — dann kann es was werden!" So viel sagt Götz über seine Technik. Vor drei Jahren hat er eines seiner vielleicht letzten Bilder gemalt, das hat ganze zehn Sekunden gedauert.

Über die Jahrzehnte änderte sich daran nur wenig. 1952 hatte er durch Zufall das Material der Zukunft für sich entdeckt, als er für seinen Sohn einen Topf Kleister anrührte und sah, wie gut dieser sich mit Pigmenten vermischen ließ. Mit dem Rakel, einem Hartgummischaber, setzte er zu den breiten Formen an, für die großen Schwünge montierte er zehn Pinsel zu einem weiteren Malgerät aneinander. Mit einem Messer ritzt er schließlich in die Farbschichten hinein. Er sagt: "Es schwupst und bubst und gelingt."

Denkt man an die Bilder von Karl Otto Götz, dann hat man vor allem diese großen Schwünge in abstrakten Kompositionen vor Augen, schwarz-weiß oder farbig sind sie. Er hat die Form auf seine Weise gebrochen und neu zusammengesetzt, nicht ohne ihr Rhythmus und jene angestrebte Poesie zu verleihen. Als Meister — von 1959 bis 1979 war er Professor der Kunstakademie Düsseldorf — lehrte er vor allem Freiheit. Gerhard Richter war einer seiner Schüler, der heute berühmter und teurer ist als er selbst.

Ruhm und Geld sind Karl Otto Götz niemals so wichtig gewesen wie die künstlerische Arbeit. Seine Bilder sind international in großen Sammlungen verbreitet, eine Marke, deren Sog sich auch in 200 Jahren nicht verflüchtigt haben wird. Niemand anders malt wie er, dabei ist er beharrlich, sein Werk mutet altmodisch und gleichzeitig futuristisch an. Mit dem möglichen Leben nach dem Tod hat sich der hochbetagte Mann bisher noch nicht auseinandergesetzt. Doch vor wenigen Tagen erst gab er vor laufender Kamera zu Protokoll: "Das könnte ich eigentlich mal machen, ne?"

(RP)
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