Berlin Ein Vordenker der abstrakten Malerei

Berlin · Ernst Ludwig Kirchner und seine "Hieroglyphen" im Berliner Museum Hamburger Bahnhof.

Es ist ein ziemlich steiniger Pfad, nicht leicht, sich einen Zugang zu Ernst Ludwig Kirchner zu verschaffen. Denn um die Ausstellung zu erreichen, die sich im Westflügel des Hamburger Bahnhofs in Berlin mit Leben und Werk des "Brücke"-Künstlers beschäftigt und beweist, dass der große Star des deutschen Expressionismus auch ein Vordenker der abstrakten Malerei war, muss man sich erst einmal einen Weg durch all die Steinblöcke und Schiefertafeln, Filz- und Fett-Ecken von Joseph Beuys bahnen, die hier (als Teil der Sammlung Maerz) ein museales Zuhause gefunden haben: Symbole und Chiffren, Zeichen und Hieroglyphen einer ebenso archaisch wie zeitlos anmutenden Kunstsprache.

Das passt. Denn auch Kirchner hat - unter dem Pseudonym Louis de Marsalle - seine Kunst als "Hieroglyphen" beschrieben, "die sich aus den anfangs wirr scheinenden Linienmassen ausscheiden und zu fast geometrischen Zeichen werden", zu Linien und Formen, die "dem Beschauer ihre Bedeutung suggerieren, wie das geschriebene Wort Pferd jedem die Form Pferd vor Augen stellt".

Von überraschenden Verbindungen und bisher übersehenen Verwandtschaften kündet die Ausstellung. Kaum hat man sich durch die Hieroglyphen-Welt von Beuys gekämpft, wartet eine dunkle Kino-Kammer. Dort läuft, in einer filmischen Endlosschleife, ein Streifen der italienischen Künstlerin Rosa Barba: erzählt wird, wie in den Depots der Berliner Museen Bilder sortiert, gelagert, zu Zeichen, Hieroglyphen und geisterhaften Erscheinungen werden. Dann, endlich, kommt Kirchner, und mit ihm der wilde, wuchtige Pinselstrich, das Chaos der Großstadt, die Ekstase der Natur: Kirchners von rauschhaften Impressionen hingeworfene Sicht auf den "Potsdamer Platz", seine erotisch animierten, von Naturkunst und Fernweh geprägten "Badenden am Strand", bei denen Kirchner aus der Ostsee-Insel Fehmarn ein Südsee-Paradies macht. In späteren Bildern sehen wir, wie sich die Farbe ins Flächige und Abstrakte wendet ("Max Lieberman in seinem Atelier", "Wiesenblumen mit Katze"). Wir sehen Skizzenblätter, seine an die so genannten "Negerplastiken" erinnernden Skulpturen und Holzschnitzereien.

Auf einigen Fotos hat Kirchner auch das ausgelassene Treiben und Tanzen in seinem Atelier und im Wald dokumentiert, wo sich reale nackte Körper natürlich durch Räume und die Natur bewegen. In den Schweizer Bergen hat Kirchner, auf der Flucht vor dem Ersten Weltkrieg und auf der Suche nach Heilung seiner ruinierten Gesundheit, eine neue Heimat gefunden und auch fotografisch experimentiert. Einmal schaut er mit dem Foto-Apparat von seiner Hütte hinüber zur Stapelalp bei Davos. Es ist fast schon Nacht, die Wiesen, Häuser und Berge sind kaum zu erkennen. Alles ein bisschen rätselhaft.

Dann eine Überraschung für den ahnungslosen Betrachter der Szenerie und ein fast körperlich zu spürender Schock: gleich gegenüber hat der in New York lebende Rudolf Stingel Kirchners Miniatur-Foto ins Überdimensionale vergrößert und bis in letzte Detail nachgemalt. Und in seinem dreieinhalb mal viereinhalb Meter großen Bild auch gleich alle Lichtreflexe und die auf dem Foto befindlichen Fingerabdrücke mit auf die Leinwand gezaubert ("Untitled, nach E.L.Kirchner", 2008). Man möchte den Atem anhalten und weiß: Der unglückliche Kirchner, der von den Nazis als "entartet" verfemt wurde und 1938 Selbstmord beging, ist noch immer unter uns. Seine Hieroglyphen erklären uns das Wunder der Welt, wie sie ist und wie sie sein könnte.

Info Ernst Ludwig Kirchner: "Hieroglyphen", Hamburger Bahnhof Berlin, bis 26.2.2017. Geöffnet Di., Mi. und Fr. 10-18 Uhr, Do. 10-20 Uhr, Sa., So. 11-18 Uhr, Katalog: 29 Euro.

(RP)
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