Düsseldorf Eine Religion wächst über sich hinaus

Düsseldorf · Jörg Lauster erklärt in seiner Kulturgeschichte des Christentums, warum wir im christlichen Abendland leben.

Eine ordentliche Geschichte des Christentums in ein Buch zu pressen, ist eigentlich hoffnungslos. Erstens wegen der Fülle des Stoffs, der in 2000 Jahren angefallen ist. Zweitens, weil solche Geschichten oft in eine Generalabrechnung oder in eine Verteidigungsrede abrutschen, womit aber der Erkenntnis wenig gedient ist. Jörg Lauster, evangelischer Theologe an der Uni München, ist das Unternehmen dennoch angegangen, und es ist ihm mehr als ordentlich gelungen - ohne abzurutschen.

Aber der Reihe nach: "Die Verzauberung der Welt" ist zwar bereits 2014 erschienen, liegt aber nun in vierter Auflage vor. Das rechtfertigt eine Besprechung ebenso wie die Tatsache, dass die europäische Identitätskrise ungeahnte Ausmaße erreicht hat. Und Lauster hat eine Menge zu sagen zur europäischen Identität, die er aufs Engste mit dem Christentum verbunden sieht.

Denn das Christentum ist für ihn mehr als seine Dogmen und Rituale: Es sei "die Sprache eines Weltgefühls, das den Überschuss als das Aufleuchten göttlicher Gegenwart in der Welt versteht". Das klingt etwas sonderbar, ist aber konsequent und fruchtbar: Lauster geht die Sache kulturgeschichtlich an. Ihn interessiert die Bedeutung von Ereignissen, Personen, Gegenständen; er fragt, welchen Sinn Handlungen und Symbole hatten oder haben sollten. Das Christentum wirkte und wirkt noch über sich selbst hinaus. Das ist der Überschuss, die "Verzauberung der Welt" aus dem Buchtitel.

Lauster bleibt stets Theologe. So differenziert er zwar zum Beispiel klar: "Nicht die Auferstehung selbst, sondern der Auferstehungsglaube ist ein historisch gesichertes Faktum." Allerdings ist für ihn die Auferstehung gar nicht so unplausibel. "Die Gewissheit und Gestimmtheit musste einen Anlass haben." Und die frühchristliche Mission ist für ihn nicht machtpolitisches Kalkül, sondern "gleichermaßen religiöser Funkenflug".

Insgesamt begegnet das Christentum dem Leser auf diesen gut 600 Seiten vor allem als Sprengung von Grenzen: geografisch, geistig, organisatorisch. Unabhängig davon, ob man nun an Jesus als den Messias glaubt oder nicht, kommt am Christentum keiner vorbei, denn Lauster versteht die christliche Geschichte als "Geschichte unserer Herkunft". Ohne Christentum würde unserem Alltag mehr fehlen als die Kirchtürme. So haben bei Lauster die Universitäten ihren Platz, die dem religiösen Interesse an Erkenntnis eine Form gaben; die Klöster, die Arche europäischer Gelehrsamkeit waren; die Barockmusik und der Roman, die Lauster auf metaphysische Diskurse und puritanische Mentalität zurückführt. Platz hat natürlich auch die Inquisition, für den Autor ein Vorgeschmack auf die Gräuel des 20. Jahrhunderts, aber erklärbar nicht bloß aus Sadismus oder Irrsinn, sondern aus dem (sehr rationalen) Bestreben, Eindeutigkeit im Glauben zu erzielen und dafür Verfahren zu entwickeln.

Zum 20. und 21. Jahrhundert äußert sich Lauster ziemlich knapp; das ist ihm alles noch zu unübersichtlich. Immerhin aber klingt Optimismus durch: "Es ist kleinmütig, allein schon leere Kirchen für den Untergang des Christentums zu halten. Das hieße, das Christentum kleiner zu machen, als es ist." Entdogmatisierung sei nicht gleich Entchristianisierung. Die Erscheinungsformen des Christentums - von Michelangelos Fresken über Händels Oratorien bis zu Caspar David Friedrichs Gemälden - sind für Lauster Formen, in denen der "Überschuss im Welterleben" Ausdruck findet. Jesu Lehre, am kompromisslosesten niedergelegt in der Bergpredigt, sei ein solcher Quell der Unruhe und Spannung, dass er unmöglich in dieser Welt vollkommen zu realisieren sei.

Lausters Buch ist sehr kleinteilig gegliedert. Das eröffnet immer wieder erfrischende Perspektiven. So greift das Vorurteil zu kurz, das Christentum sei eine vernunftfeindliche Veranstaltung - siehe Anselm von Canterbury und die Geburt der wissenschaftlichen Theologie. Es greift zu kurz, das Reformationsjubiläum 2017 als eine Art riesiges Pfarrfest zu feiern - Lauster nennt das Zeitalter der Reformation "auch ein großes Unglück mit fatalen Folgen", nämlich einer "Überdoktrinalisierung", die das Klima zwischen den Konfessionen nachhaltig vergiftete. Es greift auch zu kurz, Luther zum Vorkämpfer der Moderne zu stilisieren - das sei "trivialisierend", tadelt Lauster.

Das Buch bringt uns das Christentum als eine Geschichte der Öffnungen, Aneignungen und Innovationen nahe. Das ist ein Hinweis darauf, wie wenig die vom christlichen Abendland verstanden haben, die seine Abschottung fordern.

(fvo)
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