Eklat um Jelineks Juden-Requiem

Im Düsseldorfer Schauspielhaus wird das Publikum mit Elfriede Jelineks "Rechnitz" über das Massaker von 1945 im Burgenland hart konfrontiert. Viele im Saal reagieren mit Unverständnis und gehen. Hinterher gibt es angemessen verhaltenen Beifall.

Gisèle Spiegel verließ vor der Pause die Premiere. Hinterher erklärte sie der Intendantin Amélie Niermeyer, dass sie die Suche nach den Gräbern der getöteten Juden nicht habe aushalten können. Denn auch in der Familie ihres Mannes Paul Spiegel, dem ehemaligen Vorsitzenden des Zentralrates der Juden, würden bis heute ermordete Verwandte vermisst. So wie Frau Spiegel verließen einige Zuschauer vorzeitig die Düsseldorfer Aufführung.

Es geschah vor 65 Jahren in einem burgenländischen Dorf. Kurz vor Kriegsende, in der Nacht vom 24. auf den 25. März, wurden 180 Juden von den Gästen eines Schlossfestes ermordet. Es soll ein blutgeiles Gemetzel gewesen sein, das als ekstatisches Partyspiel angesetzt worden war. Gastgeberin war Gräfin Margit von Batthyány-Thyssen, Enkelin des Stahlbarons August Thyssen, Schwester von Heinrich Thyssen-Bornemisza. Über ihre Tatbeteiligung wird spekuliert, ihr billigendes Mitwissen gilt als sicher, auch dass sie ihren Komplizen, führenden NSDAP-Männern, zur Flucht verholfen hat.

Bis heute wurden die Leichen der jüdischen Zwangsarbeiter nicht gefunden, obwohl internationale Suchkommandos den Boden bei Rechnitz durchkämmt haben, sogar mit Bluthunden. Die Gräfin blieb unbestraft und starb 1989 in ihrem Schweizer Exil. Das Schloss wurde wenige Tage nach dem Massaker von den Russen in Brand gesetzt. Die Bürger von Rechnitz haben eine Mauer des Schweigens errichtet, die jahrzehntelang nicht bröckelte. 1994 lief erstmals ein Dokumentarfilm über die Nacht von Rechnitz, 2007 berichtete der Biograf des Thyssen-Clans von den Rechnitzer Geschehnissen in Zeitungen und von der "Gastgeberin der Hölle", wie er die Gräfin nannte. Durch den Namen Thyssen wurde die Story brisant und von Journalisten aufgegriffen.

Auch Elfriede Jelinek kam diese Leerstelle der Geschichte recht. Steht dieses kleine Dorf doch symbolisch für den Umgang Österreichs mit seiner Nazi-Vergangenheit. Die Literaturnobelpreisträgerin baute aus dem Fall Rechnitz ein Ausgrabungsstück eigener Machart: Auf 100 Seiten verfasste sie einen wild assoziierenden, schwerfälligen Text, eine atemlose Folge von Monologblöcken mit glitschigen Wortmassen und halsbrecherischen Satzkaskaden, mit guten und schwachen Kalauern versehen, geschwätzig und redundant. Dieses sperrige Textstück bietet sie dem Theater an und lässt – wie immer – der Regie völlig freie Hand.

Dies alles sollte man wissen, bevor man sich im Theater auf die schmerzhafte, mitunter ekelerregende Spurensuche einlässt. Voraussetzungsfrei wird man das Dreistundenstück, das nun im Central des Düsseldorfer Schauspielhauses in der Inszenierung von Hermann Schmidt-Rahmer gezeigt wird, nicht verstehen. Für die Uraufführung, 2008 in München, wurde der unstrukturierte Wortschwall auf zwei Stunden eingekocht, in Düsseldorf werden daraus drei lange Stunden mit acht Menschen auf der Bühne. Diese Frauen und Männer sind Boten, die mitunter kurz auch andere Menschen verkörpern.

In verschiedenen Räumen baut die Regie das Stück zusammen und legt es auf mehreren Abstraktionsebenen an. Vom gediegenen Wohnzimmer geht es in die eiskalte Krematoriumshalle, in der Kaminfeuer züngelt. Später entstehen dort die kalkweißen Ausgrabungsstätten, und noch später greifen Projektionen mit verbalen Schuldzuweisungen ein. Auch die Schlosssituation jener Schicksalsnacht – eine heiße Party mit obszönen Sexspielen und aufgeilenden Tötungsritualen – wird angedeutet, per Video-Projektion auf eine Meta-Ebene gerückt. Um das Unfassbare, das Gemetzel, den Tod zu zeigen und sinnlich wahrnehmbar zu machen, werden irrlichternde Videosequenzen über die Bühnenwände rauschen. Man weiß jetzt: Die 180 Rechnitzer Toten stehen für alle durch die Nationalsozialisten getöteten Juden.

In diesen Räumen agieren die brillanten Schauspieler. Etwa Susanne Tremper, der man gleich die Gräfin andichten will, oder ist es doch eher Marianne Hoika? Beide könnten es sein, und dieser Konjunktiv entspricht der Faktenlage. Beide Frauen sind aber nur Botinnen und erzählen eindringlich von den Ereignissen jener Zeit – wie auch die jungen Frauen, Janina Sachau mit durchtriebenen Soli und Katrin Röver als aalglatte Reporterin. Daniel Christensen schert aus der Sesselrunde aus, prescht in den Zuschauerraum hinein und berichtet vom Deutschen, der gerne viel zu laut redet. Ein furioses Solo!

Das Publikum bekommt einiges um die Ohren: "Ich bin froh, dass ich hier keine Nazis begrüßen muss", sagt ein Bote. Und: "Das war doch bei Gustaf Gründgens anders . . . " Jetzt werden alle Techniker auf die Bühne geholt, die Souffleuse auch. Man wird gemeinsam mit dem Publikum die Nationalhymne anstimmen, fast niemand singt mit.

Viele Fragen, die im Fall Rechnitz bisher offen blieben, bleiben auch in der Dramatisierung offen. Aber sie werden jedenfalls noch einmal gestellt. Bohrend, ungnädig. "Schoss die Gräfin selber?" Von der Decke flattern Bücher auf die Boten, tonnenschwere Geschichte. Die Videos (Matthias Lippert) bieten eine neu Infoebene – auch hier versteht nur, wer schon etwas weiß.

Miguel Abrantes Ostrowski agiert in der Unterhose (Jelinek hatte Calvin Klein vorgeschlagen), belegt sich mit Schinken, wird Opferlamm wie auch Wolfram Rupperti, dem der goldene Raffzahn gezogen wird. Manchmal werden die Boten zum Chor, reden rhythmisch zusammen in acht Lagen. Sehr komisch: Markus Danzeisen. "Wir Boten werden uns später widersprechen", heißt es nach der Pause, damit die Zweifel bleiben. Dann folgt die große Schlüsselszene: In einem Regal übereinandergestapelt liegen sechs Menschen. Sie tragen mörderrote Zipfelmützen. Sie singen das bekannte Lied: "Wir haben Hunger, Hunger, Hunger", das Ende mit der Wurst ist neu getextet: "Dann fressen wir Leichen!"

Will Elfriede Jelinek etwa andeuten, dass die verschwundenen Judenleichen Opfer von Kannibalen wurden? Dass die Hungersnot vor Ende des Weltkriegs alle Hemmschwellen der Dorfbewohner hat fallen lassen? Unfassbar steht diese Anklage plötzlich im Theaterraum – untermauert durch den Dialog der Kannibalen am Ende des Abends, der den Magen anpackt und weitere Menschen das Theater fluchtartig verlassen lässt.

Was erlebt der Zuschauer in dieser Danse macabre? Er wird erinnert an ein grauenvolles Menschenschlachten. Er erfährt von ungeklärten Schuldfragen, erhält Hinweise auf Verflechtungen der Wirtschaftsbosse mit den Nazis. Geschichte ist, was aufgeschrieben wird. Wer schweigt, verhindert Geschichte. Elfriede Jelinek hat einen wichtigen Nachtrag in die Geschichtsbücher eingefügt, Motive aufgedeckt, Spekulationen dabei nicht unterlassen. Dass nach dieser gewichtigen, etwas zu langen, aber kunstvollen Inszenierung kaum jemand so recht applaudieren mochte, erscheint logisch.

Elfriede Jelineks "Rechnitz" ist kein gefälliges Stück, sondern ein Ungetüm.

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