Interview "Europa eine Seele geben – das ist Kaiser Karls kulturelles Erbe"

Eine historische Spurensuche mit dem Mittelalterforscher Max Kerner aus Anlass des 1200. Todestages von Karl dem Großen im nächsten Jahr.

Nächstes Jahr feiern wir den Todestag Karls des Großen, der vor 1200 Jahren am 28. Januar in Aachen gestorben ist. Von seiner Kindheit ist wenig bekannt, nicht einmal der Geburtsort ist gesichert. Auch das Jahr seiner Geburt ist nicht zuverlässig überliefert, die Forscher gehen von 748 aus. Im Gespräch mit dem Aachener Mediävisten Professor Dr. Max Kerner geht es um aktuelle Forschungsergebnisse und die Qualität der Karls-Biografien, die gerade durch die umfassende von Johannes Fried bereichert wurden.

Herr Professor Kerner, seit 2009 Heribert Illig 300 Jahre des Mittelalters aus der Geschichtsschreibung tilgen wollte und im gleichen Zuge Kaiser Karl, sind Zweifel an der historischen Figur nicht ausgeräumt. Hat Karl gelebt und Illig sich geirrt?

Kerner Karl hat eindeutig gelebt, dafür gibt es zahlreiche Zeugnisse – Texte und materielle Überreste der unterschiedlichen Art. So dass die These von Heribert Illig, Karl habe aufgrund eines Kalenderfehlers nicht existiert, abwegig ist.

Zahlreiche Bücher sind erschienen, in denen die Beschreibungen des Menschen Karl, seiner Intentionen und seines Herrschaftssystems detailliert ausformuliert werden. Gibt es etwas Neues über den Karolinger?

Kerner Neue Erkenntnisse gibt es dadurch, dass man die bisher schon bekannten Quellen neu interpretiert. Freilich gibt es auch Zeugnisse, die man bisher nicht gekannt hat.

Was ist wahr und was Fiktion?

Kerner Das ist die Ausgangsfrage jeder Quellenkritik. Wichtig ist, die echte und die gefälschte Urkunde voneinander zu unterscheiden. Es gibt viele erzählende Quellen, die aus der Interessenlage des Autors und der Zeit zu sehen sind. Wenn man Johannes Fried folgt, ist man zusätzlich gehalten, nicht nur diese interessensgebundenen Perspektiven einzubeziehen, sondern auch zu wissen, dass der Mensch über seine neurobiologische Veranlagung ganz bestimmte Mechanismen des Erinnerns und Vergessens hat, die man kennen sollte, wenn man adäquat mit Quellen arbeiten will.

Fried provoziert mit einem Absatz gleich zu Beginn seines Buches. Er beschreibt eine Szene, in der Karl der Große im Regen steht, am Läuterungsberg. ,Der Regen stürzt auf ihn hernieder', heißt es bei Fried, ,und konnte doch die Sünden nicht abwaschen, die ihn befleckten.' Auf welche Sünden spielt der Autor an?

Kerner Wenn Sie den Text weiter zitieren, werden Sie lesen: ,Ein Untier zernagte unablässig Karls Geschlecht, das umgehend nachwuchs, um wieder zerfressen zu werden, dann heißt es in demselben Text, dass ein Mönch den Büßer schaute und kaum wagte, den Namen zu nennen. Doch alle wussten, so heißt es hier wörtlich, es war Karl, der Große, der Kaiser, der Sünder.

Woher stammt diese Quelle?

Kerner Es ist der Text des Mönches Wetti von der Reichenau. Er hatte eine Vision, die Visio Wettini, die mündlich überliefert und später verschriftlicht wurde. Nach dem Tode Karls ist es das erste schriftliche Zeugnis, das uns diese Notiz überliefert über einen Menschen, der offenbar ein Sünder war. Diese drastische Schilderung dürfte auf Karls umstrittenes Sexualleben hinweisen. Um mit Fried zu sprechen, Karl war ein ,Mann sinnlichster Lebensfreude'.

Vom Hofe des Frankenkaisers ging eine neue Wissenskultur aus, die uns heute noch hilft, die Welt zu ordnen und zu verstehen. Wie bewerten Sie diese Errungenschaften?

Kerner Wir sprechen von der Aachener Gelehrsamkeit, von einer Wissenskultur in Bezug auf den Kalender, auf die astronomischen und mathematischen Erkenntnisse, aber auch auf all das, was wir an literarischen Texten der Antike hier in Aachen greifen können. Zu diesen Zeugnissen der Antike gehört nicht zuletzt die rationale Kultur. Es ist wichtig, dass die aristotelische Logik gepflegt, rezipiert und umgesetzt wurde in die entsprechenden Formen des Denkens und Handelns. Aristoteles hat mit seiner Logik die mittelalterliche Kultur entscheidend nach vorne gebracht.

Wie haben wir uns heute Karl vorzustellen – als Riese mit Fistelstimme, als Frauenheld und als Mann, der aus dem Vollen zu leben wusste?

Kerner Wir haben schriftliche Zeugnisse seines Biografen Einhard. Darin ist die Rede von dem groß gewachsenen Mann mit Fistelstimme. Auch dass er einen hervortretenden Bauch gehabt hätte und einen Stiernacken. Angesichts dieser wenig vorteilhaften Eigenschaften muss man sich fragen, warum wird das berichtet? Ist es ein realistischer Bericht, oder berichtet dies Einhard mit doppelter Bedeutungsebene?

Was heißt das über den Wahrheitswert der Biografie Einhards?

Kerner Wir wissen, dass Einhard nach einer spätantiken Vorlage gearbeitet hat, nach den Kaiser-Viten Suetons. Diejenigen, die diese Texte lesen konnten, ahnten, dass dies eine einschränkende Andeutung war im sonst positiven Urteil über Karl den Großen.

Hat Einhard sich das angemaßt?

Kerner Nein. Er wird ja Karl den Großen sehr gut gekannt haben, weil er in unmittelbarer Nähe gelebt hat und seine Biografie Ende der 20er Jahre schreibt. Das ist anderthalb Jahrzehnte nach Karls Tod, und er schreibt sie für Karls Sohn, Ludwig den Frommen. Er schreibt sie, um Ludwig zu zeigen, wie ein Herrscher zu leben und handeln habe.

Das heißt, Einhard wollte den Menschen in seinen Stärken und Schwächen zeigen?

Kerner Ja – aber in einer sehr dezenten Weise. Das kann man in etwa vergleichen mit Kabarett. Wer ältere Kabaretttexte heute liest, wird sie kaum verstehen, weil er den Kontext nicht mehr kennt. Wenn man aber die Kontexte kennt und deren Verformung durch die kabarettistische Darstellung, dann weiß man sofort, was gemeint ist.

Karl ist als Krieger berühmt geworden, als Eroberer. Wie kam es zu seinem Expansionsdrang?

Kerner Es war eine agonale Gesellschaft, die im Kleinen wie im Großen im Streite agierte. Krieg war eine wirklichkeitsnahe Größe. Deswegen nennen viele Historiker Karl einen Kriegerkönig und Glaubenskrieger.

Oder Sachsenschlächter...

Kerner Das ist eine sehr provokative Bezeichnung, die aus den 1930er Jahren stammt. 1935 hat Hitler dafür gesorgt, dass es mit dem Vorwurf des Sachsenschlächters zu Ende war, in dem er Karl zu einem germanischen Europäer umdeutete. Hitler hat Karl instrumentalisiert. Es soll kein Zweifel darüber sein: Das, was Karl gegen die Sachsen getrieben hat, war eine Blutmission. Schon in den zeitgenössischen Quellen wurde er wegen seiner Brutalität und Grausamkeit kritisiert. In einer englischen Quelle heißt es, man hätte an seinem Verstand gezweifelt.

Was zählte das Wort Gerechtigkeit zu jener Zeit?

Kerner Wir haben heute andere Kategorien. Wenn Karl überzeugt war, die Menschen für den christlichen Glauben zu gewinnen und dadurch ihr Seelenheil zu retten, dann meinte er wahrscheinlich am Ende auch noch, gerecht zu handeln.

Wie hat sich Karl um das Christentum verdient gemacht?

kERNER Er hat sich vielfach um das Christentum verdient gemacht, um die Gestaltung der Liturgie, um rechtliche wie dogmatische Fragen und um die Stellung des Papstes. Er war sehr nach Rom ausgerichtet, es war eine romgebundene Landeskirche, die unter Karl errichtet wurde.

Welche Leistungen Karls sind heute besonders anzuerkennen?

Kerner Er hat die karolingische Minuskel auf den Weg gebracht, die heute unsere Schreibschrift prägt. Er hat den Kalender entwickelt, die rationale Kultur in Gang gesetzt. Auch wirtschaftlich hat er Großes erreicht. Was viele gar nicht wissen: Dass die letzte Einheitswährung vor dem Euro der karolingische Denar gewesen ist. Entscheidend aber war, dass er glaubte, der Sozial-Kitt, der Zusammenhalt seiner Herrschaft müsse der christliche Glaube sein.

Die Frage stellt sich heute wie damals, was eine Gesellschaft zusammenhält ...

Kerner Heute haben wir den Euro, wir haben immense Kommunikationsmittel und umfangreiche Wissensbestände. Doch trägt dies bereits zu einer europäischen Identität bei? Hat Europa überhaupt eine Identität? Eine kulturelle Identität, die so ausgeprägt ist, dass sie Europa bei allen politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Problemen zusammenhält?

Karl hat gesagt, der Glaube hält zusammen. Und Sie sagen?

Kerner Der christliche Glaube ist heute für die einen nach wie vor lebenswichtig, für die anderen kurz gesagt ein Stück Altertum. Deshalb fragen wir uns, was an die Stelle treten kann. Ich glaube, dass zur europäischen Identität Toleranz und Aufklärung gehören sowie Solidarität. Meiner Auffassung nach ist Solidarität in der christlichen Nächsten- und Gottesliebe mit angelegt.

Dort setzt Papst Franziskus an ...

Kerner Die Anregungen, die Franziskus zu einer neuen Evangelisierung gibt, lassen sich so deuten, dass das Christentum wieder wesentlich zu Europa dazugehören sollte. Europa eine Seele geben – das ist Karls kulturelles Vermächtnis.

In Aachen würdigt man ihn als Wegbereiter Europas und vergibt den Internationalen Karlspreis. Kann man Karl schon einen Europäer nennen?

Kerner Europa war für ihn kein politisches Projekt. Karl hat aber ein Reich geschaffen, das von der Nordsee bis nach Mittel-Italien und von den Pyrenäen bis an die Elbe reichte. Dieses Reich war im Umfang das, was die EWG Ende der 1950er Jahre umfasste. Von Gebiet und Umfang her war Karl auf dem Weg nach Europa. Aber sein kulturelles Erbe, man nennt es eine erste Renaissance, ist bereits ein wichtiges Stück Europa. In einer solchen Herkunft liegt für uns auch ein Stück Zukunft.

(RP)
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