Brüssel Europa ist reif fürs Museum

Brüssel · In Brüssel ist jetzt nach zehnjähriger Planung das "Haus der europäischen Geschichte" eröffnet worden.

An Tagen wie diesen, an denen Parlament und Rat nicht tagen und keine Regierungschefs vorbeischauen, ist das Europaviertel in Brüssel ein bisschen politisches Disneyland: Etliche Besuchergruppen streifen durch die Machtzentralen Europas, hören viel, lernen viel, sehen viel. Doch richtig museumsreif ist Europa erst jetzt geworden, mit einem eigenen Geschichtshaus, zu dem der ehemalige Parlamentspräsident Hans-Gert Pöttering vor zehn Jahren ermuntert hat und das jetzt im Léopold-Viertel eröffnet wurde: im schicken, für 55,4 Millionen Euro umgebauten und aufgestockten Eastmann-Bau, in dem einst eine Zahnklinik, später ein Pflegeheim untergebracht war. Drei Architekturbüros - darunter Chaix & Morel aus Frankreich - haben das Art-déco-Gebäude von 1935 in ein feines Museum verwandelt, das auch mit Hilfe digitaler Darstellungsformen den Blick zurück selten pädagogisch werden lässt.

Doch wohin schauen wir, wenn wir nach Europa schauen? Und wo beginnen wir, wenn wir nach den Anfängen suchen? Ein bisschen lehrend fängt es dann doch an mit einer Wohnung voller Alltagsgegenstände. Sieht ein bisschen wie bei Ikea aus, doch die Botschaft ist eine andere: Die Geschichte beginnt immer zuerst bei uns, wir sind Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft und in vielen Fällen auch Europa. So einfach ist das, und so schwierig. Das zeigen die Leihgaben aus 300 europäischen Museen, mit denen impressionistisch und symbolisch mächtig aufgeladen ein Gefühl von europäischer Historie auf knapp 5000 Quadratmetern gegeben werden soll. Auf fünf Etagen irren wir durch das Meer von Taten und Ideen, stehen dann vor der monströsen Stahlpresse aus der Zeit der Industrialisierung, unter deren Hammer das Kommunistische Manifest liegt; bestaunen Landkarten aus China, die nicht eingenordet sind und Europa bloß am Rande platzieren, betrachten in einer Glasvitrine eine Pistole aus dem Heeresgeschichtlich Museum zu Wien und können kaum glauben, dass es sie wirklich noch gibt: Mit der Browning wurde 1914 Erzherzog Franz Ferdinand erschossen und damit der Anlass zum Ersten Weltkrieg bereitet.

Europas Geschichte wird gern als eine Geschichte des friedlichen Miteinanders erzählt, was nach 1945 sicherlich stimmt. Das Ringen um eine solche Union aber ist auch Mord und Totschlag geschuldet, beginnend spätestens mit bürgerlichen Freiheitskämpfen seit der Französischen Revolution. Die Gewalt will kein Ende nehmen: Die Komposition von verschiedenen Gasmasken aus dem Ersten Weltkrieg mutet wie eine Ahnengalerie von Außerirdischen an, es folgt eine Sammlung verzweifelt gestalteter Stahlvasen aus Granatenhülsen, einen Gang später begegnen uns Nazi-Uniformen, Anzüge von KZ-Häftlingen, ein leerer Zyklon-B-Kanister. Spätestens mit Dokumenten des Mauerfalls wird deutlich, dass das Schicksal Europas im 20. Jahrhundert zu großen Teilen von Deutschland abhängig gewesen ist - im Guten wie im Katastrophalen.

Das alles kommt ohne Beschriftung aus. Tablets - in 24 Sprachen - sollen den Besucher zum mündigen Erkunder machen. Ohne die Bereitschaft nachzulesen und ohne ein Grundwissen an Geschichte wird manches ein Schrecken- und Kuriositäten-Kabinett bleiben. Wahrscheinlich funktioniert das Konzept, zumal kundigen Museumsbesuchern derartige Darreichungen bekannt vorkommen können, nämlich aus dem Bonner Haus der Geschichte. Dass sein Direktor, Professor Hans Walter Hütter, zum Kuratorium des neuen Museums in Brüssel gehört, verwundert nicht.

Europas Ursprung aber bleibt mythisch - mit einem Entführungsdrama: Europa, Tochter des phönizischen Königs Agenor, wird von Zeus entführt, der sich in einen Stier verwandelt und die junge Frau durchs Mittelmeer bis nach Kreta verschleppt. Eine ihrer ältesten Darstellungen ist in Brüssel zu sehen, auf einem sizilianischen Relief aus dem sechsten vorchristlichen Jahrhundert. Mit dieser Erinnerung scheint alles zu beginnen, mit einer ähnlichen endet sie vorerst: Ein alter Turnschuh und eine Kinderschwimmweste schlagen das Kapitel der Flüchtlinge auf und stellen die Frage nach den Grenzen neu. Geschichte ist nie statisch, und europäische schon gar nicht. Das junge Museum in Brüssel wird ein Haus des Wandels bleiben müssen.

(los)
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