Berlin "Faust" - das war sein letztes Wort

Berlin · Intendant Frank Castorf verabschiedet sich von der Berliner Volksbühne.

Sieben quälend zähe und zugleich erfrischend verrückte Stunden sind bereits vergangen. Da stülpt sich Martin Wuttke noch einmal diese bizarre Goethe-Gummimaske übers Gesicht. Doktor Faust, der so viel unnützes Wissen angehäuft hat und sterben möchte, dann aber doch lieber einen Pakt mit dem Teufel eingeht und beschließt, zum geldgeilen Machtmenschen und sexuellen Lüstling zu werden, sieht jetzt aus wie ein kindlicher Greis. Sabbernd dreht er noch ein paar Runden auf einem Dreirad. Valery Tscheplanowa alias Margarete belächelt ihn und Mephisto Marc Hosemann prügelt erschöpft auf ihn ein. "It´s All Over Now, Baby Blue", dröhnt es aus den Boxen. Endlich hat Faust es begriffen: Das Männliche ist das Vergängliche, das Ewig-Weibliche zieht uns hinan!

Nach 25 Jahren nimmt Intendant und Regisseur Frank Castorf Abschied von der Berliner Volksbühne. Wie kein anderer hat der Bühnen-Wüterich mit seinen Text-Dekonstruktionen, Kartoffelsalat-Schlachten und Video-Installationen das zeitgenössische deutschsprachige Theater geprägt. Immer wieder wurden seine Inszenierungen zum Berliner Theatertreffen eingeladen, hat er für seine Arbeit unzählige Auszeichnungen (vom Fritz-Kortner- bis zum Mannheimer Schiller-Preis) eingeheimst, machte er die Volksbühne zum Hort des künstlerischen Widerstands, hat er Regisseuren wie Christoph Schlingensief und Johann Kresnikund Christoph Marthaler freie Hand gelassen, ihre wilden Fantasien auszuleben. Doch jetzt ist Schluss mit lustig. Kunstexperte Chris Dercon übernimmt und plant, aus dem Theater-Panzerkreuzer einen Performance-Schuppen zu machen. Doch während die meisten Volksbühnen-Mitarbeiter einen Brandbrief an den Bürgermeister verfassen und jede Zusammenarbeit mit dem belgischen Bühnen-Neuling ablehnen, zuckt Castorf nur mit den Schultern und schlägt ironisch vor, man könne doch auch die Volksbühne zur Badeanstalt umbauen.

Zum Finale macht Castorf den Faust, weil man damit, wie er sagt, "machen kann, was man will". Und weil man "bei Goethe für jede Interpretation eine Begründung" findet, und weil es Castorf irgendwie auch um Kapitalismus und Kolonisierung, die Alchemie des Geldes und die Enthemmung des Individuums geht, verlegt er das urdeutsche Mysterienspiel kurzerhand ins Frankreich der Algerienkriege. Aleksandar Denic hat eine Bühne aus Höllenschlünden und Bordellen, Metro-Stationen und Flüchtlings-Containern gebaut. Die Videokamera ist immer dabei und überträgt alles, was sich in den hintersten Ecken zuträgt, auf große Leinwände. Goethes Text wird gekürzt, aufgebrochen und neu gesampelt. Befreiungs-Theologe Frantz Fanon wird genauso herbei zitiert wie Paul Celans "Todesfuge". Als die Irrfahrt durch Zeit und Raum droht, sich im Nirgendwo zu verlieren, darf nach drei oder vier Stunden endlich auch Sophie Rois als heiser krächzende Hexe mitspielen und sich mit Faust ein rhetorisches Scharmützel liefern.

Der frenetische Schlussapplaus wie eine Selbst-Befreiung. Castorf nimmt es Kaugummi kauend und gelangweilt zur Kenntnis und geht kommentarlos.

Info Karten unter Tel. 030 - 24065777

(RP)
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