"Alles was kommt" Isabelle Huppert in Bestform

Die 63-Jährige spielt in dem sommerlichen Drama "Alles was kommt" eine Frau, die den Mann verliert und ihren Seelenfrieden findet.

Natalie ist Philosophielehrerin an einem Gymnasium in Paris, ihr Mann fährt Volvo und hat denselben Beruf wie sie. Als er ihr mitteilt, dass er eine jüngere Frau liebt und seine Sachen gepackt hat, weil er jetzt auszieht, tobt Natalie nicht. Sie schreit oder heult auch nicht. Sie geht schnurstracks zum Bücherregal und schaut, welche Bände er mitgenommen hat. Als sie merkt, dass Buber und Levinas fehlen, zischt sie: "Bastard!"

"Alles was kommt" heißt dieser Film, und inszeniert hat ihn die 35 Jahre alte Französin Mia Hansen-Løve. Sie erzählt eine Befreiungsgeschichte, und sie tut das auf neue Weise. Sie arrangiert den Film um ihre Hauptdarstellerin Isabelle Huppert herum, die eine umwerfende Vorstellung gibt. Hupperts Natalie ist eine Frau, die innere Erschütterungen nur durch kleine Gesten mitteilt, sie fährt sich dann öfter als sonst durchs Haar, sie geht schneller und wird fahrig. Man sieht das zu Beginn oft in Großaufnahme. Ansonsten scheint Natalie in ihrer Bücherwelt zu ruhen. Sie zitiert Rousseau, und man merkt, dass sie dabei so großen Genuss empfindet wie andere beim Pralinen-Naschen.

Man könnte meinen, das sei ein schwerer Film, ein Problem-Film, aber Hansen-Løve hat ihr Drama sommerlich gekleidet, es ist leicht und bisweilen sogar heiter, manchmal fühlt man sich an die Konversationskomödien Eric Rohmers erinnert. Die Dialoge zwische Natalie und ihrer Mutter, die sie mit wehleidigen Anrufen traktiert, sind fast schon satirisch. Komisch ist auch die wunderbare Szene, in der Natalie am bretonischen Strand verzweifelt versucht, Empfang für ihr Handy zu finden.

Natalie wirkt wie abgepanzert gegen die Welt. Als ihre Schüler demonstrieren gehen, sagt sie, sie interessiere sich nicht für Politik. Dabei hat sie gerade den Gesellschaftsvertrag zitiert. Allmählich merkt man, dass diese Frau sich den Zuschreibungen und Erwartungen durch Unverbrüchlichkeit entzieht, dass sie die Suche nach sich selbst hinter der eigenen Stirn zu Ende bringt, und passend dazu steht die Huppert im Verlauf des Films zunehmend am Bildrand, geschützt vor dem Zugriff der anderen.

Ihre Kinder leben eigene Leben, haben eigene Familien, der Mann ist fort, aber das Verlassensein endet nicht im Jammertal, sondern eröffnet Möglichkeiten. "Ich war noch nie so frei", sagt sie lakonisch, ohne Selbstmitleid. Natalie stürzt sich indes nicht mit Hurra-Gebrüll in die neue Freiheit, sie tastet sich vielmehr hinein, und die 63 Jahre alte Huppert spielt das mit unglaublicher Präsizion und konsequent innerhalb der Vorgaben, die sie ihrer Figur gleich zu Beginn gesteckt hat.

Irgendwann besucht Natalie ihren Lieblingsschüler Fabien, der eigentlich seine Doktorabeit schreiben soll, aber lieber in einer Landkommune lebt. Es gibt ein wenig Geflirte zwischen ihr und ihm. Die jungen Leute wollen eine anarchistische Zeitschrift herausgeben, sie zitieren den Kulturkritiker Slavoj Zizek, und Natalie hört zu, ohne Anteil zu nehmen. Als es Streit darum gibt, ob man die Artikel mit Autorennamen kennzeichnen soll oder lieber alles einem Kollektiv zuschreibt, verlässt Natalie die Runde. Die Zeit der großen Ideen ist vorüber.

Man sieht ihr beim Verlassen des Hauses zu, man sieht eine selbstbewusste, sichere Frau. Um sie herum ist viel Landschaft, und die Frau wirkt darin aufgehoben. "Alles was kommt" ist im Grunde bebilderte Philosophie, eine unbedingt sehenswerte Studie über Seelenfrieden und Lebenskunst.

Alles was kommt, Frankreich 2015 - Regie: Mia Hansen-Løve, mit Isabelle Huppert, André Marcon, Roman Kolinka, Dauer: 98 Min.

(hols)
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