"Victoria" bei der Berlinale Vier Kumpel und ein Mädchen

Berlin · Sebastian Schipper ist ein Geniestreich gelungen. In einem Zug drehte er den Thriller "Victoria", in zweieinhalb Stunden, mit einer Einstellung, ohne Schnitt. Das ist nicht nur filmisch ein grandioses Experiment, das ergibt auch einen packenden, atmosphärisch ungeheuer dichten Film, der einem lange nachgeht.

 Laia Costa, Frederick Lau und Franz Rogowski spielen im Film "Victoria" junge Leute, die sich an nur einem Abend sehr nah kommen.

Laia Costa, Frederick Lau und Franz Rogowski spielen im Film "Victoria" junge Leute, die sich an nur einem Abend sehr nah kommen.

Foto: dpa, kde

Der erste Bärenkandidat ist gefunden und er kommt aus Deutschland: Der Schauspieler und Regisseur Sebastian Schipper ist ein ungeheures Risiko eingegangen: Er hat einen Film am Stück gedreht, ohne Schnitt, ohne Korrekturmöglichkeit. Er hat in Echtzeit gearbeitet, live, wie am Theater - nur mit der ungeheuren Nähe der Kamera. Und dem ganzen Aufwand des Films.

Dabei ist "Victoria" kein kleines Kammerspiel, sondern eine Bankraubgeschichte mit reichlich Action, die in einer Disko beginnt, in einen Wohnblock, eine Garage, eine Bank und wieder in eine Disko führt und dann ins bittere Ende. Dass all das geklappt hat, ist nicht nur technisch bemerkenswert, der hyperintensive Dreh hat auch einen ungeheur intensiven Film ergeben. Das ist die eigentliche Sensation.

Schipper hat die richtigen Schauspieler ausgesucht, Leute wie Frederick Lau, Franz Rogowski, Burak Yigit, Max Mauff. Typen. Und tolle Schauspieler. Er hat drei Monate mit ihnen geprobt, er hat zwei Durchläufe probiert und dann den entscheidenden Versuch gewagt. "Und als ich das Ergebnis gesehen habe, da wusste ich, dass sich der ganze Wahnsinn gelohnt hat", sagte Schipper in Berlin. "Ich weine sonst nicht schnell, aber da sind mit die Tränen gekommen." Seine Schauspieler sahen den Film erst bei der Berlinale zum ersten Mal. Sie haben die Katze im Sack gedreht, in Berlin haben sie sie freigelassen.

Dass Schipper Kumpelfilme drehen kann, hat er schon mit "Absolute Giganten" bewiesen. Das ist ein wahrhaftiger Film über Freundschaft, weil Schipper seine Figuren nicht über ihre Gefühle sprechen lässt, er zeigt sie. Und am Ende möchte man mit seinen Jungs auf dem Balkon sitzen, die Pulle zwischen den Knien und nichts sagen.

So eine Szene gibt es auch in "Victoria". Da sitzen die vier Typen aus Berlin - echte Berliner, verstehse - auf dem Dach eines Plattenbaus. Sie trinken, sie flüstern, denn das ist ihr geheimer Ort, und bei ihnen ist ein Mädchen. Victoria kommt aus Spanien. Sie ist ziemlich einsam in Berlin. Und im Leben auch. Natürlich wollen die Männer ihr gefallen. Sonne vor allem, der so heißt, weil er ein sonniges Gemüt hat, bis die Sache mit Boxer aus dem Ruder läuft.

Die Freundschaft der Jungs wird auf eine tragische Probe gestellt in dieser Nacht, Victoria wird eine von ihnen werden, weil sie versteht, dass man dafür alles riskieren muss. Doch manchmal hilft selbst das nicht. Manchmal ist die Realität einfach stärker und alles geht schief.

Schipper gelingt es wieder mit größter Wahrhaftigkeit von Freunden zu erzählen, ihr Rumhängen, Rumalbern auf der Straße, ihre ganze männliche Welpenhaftigkeit, das wirkt echt in jeder Sekunde. Und die eigenwillige Laia Costa als "Victoria" ist eine Entdeckung dieser Berlinale. Sie ist ausgelassen und mutig, aber innen drin manchmal ganz leer. Dann wippt sie auf dem Dach über dem Abgrund, weil da etwas Selbstzerstörerisches in ihr wütet. Jedenfalls ist sie Keine, die die Jungs auseinander bringen will, denn sie versteht, was sie einander sind: Familie.

Doch dann geht es erst richtig los: Boxer war mal im Knast, da hatte er einen Beschützer und der will nun Geld. Und so beginnt eine rasante Gangstergeschichte, in der sich die Ereignisse überschlagen, vier Freunde immer weiter zueinander halten, doch vor Dummheit bewahrt sie das nicht.

Ohne die Entstehung des Films zu kennen, könnte man die Geschichte für etwas übereifrig halten. Manche Szenen, etwa in einer Tiefgarage wirken auch noch improvisiert und wenn die Polizei eingreift, wähnt man sich im Tatort. Doch allein die Sozialstudie, die "Victoria" auch ist, ist tief beeindruckend. Denn die Szenen zwischen den jungen Leuten, wie sie feiern, wie sie posieren, wie sie sprechen, das ist alles so voller Wirklichkeit, dass es den Zuschauer eigentümlich rührt. Er sieht ja auch fünf Freunden zu, denen die Realität, die soziale Wirklichkeit, wenig Chancen lässt. Schipper muss das nie explizit erwähnen, aber auch davon handelt seine Geschichte.

Er habe mit diesem Film keinen sportiven Rekord hinlegen wollen, sagte Schipper in Berlin, er habe in einem Zug drehen wollen, weil erst das den nötigen Druck geschaffen habe, die notwendige Intensität.

"Das Kino sehnt sich zu Unrecht nach Perfektion", sagte Schipper. "Wir wollten aber den Drang, die Emotion, die Gefährlichkeit."

All das hat man bei der Berlinale bisher vermisst. Ein verrückter Actionthriller aus Deutschland hat Tempo in den Wettbewerb gebracht.

(dok)
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