Der Arzt, dem das Land vertraut

"Der Landarzt von Chaussy" ist ein Sozialdrama über das Gesundheitssystem.

Das Tagwerk eines niedergelassenen Mediziners hat nur sehr wenig mit der Romantik von Dr. Stefan Frank oder der Praxis Bülowbogen zu tun. Das von Landarzt Dr. Werner ("Ziemlich beste Freunde"-Star François Cluzet) sogar rein gar nichts. Schwangere Teenager und bettlägerige 90-jährige Bauern, die um keinen Preis im entfernten Stadtkrankenhaus enden wollen - im gesamten Landkreis ist Dr. Werner für jeden und alles zuständig. Und immer ist er da, wenn man ihn braucht, egal um welchen Preis. Nur dass auch ein Arzt mal krank wird, kann sich niemand vorstellen. Und so verheimlicht Dr. Werner erst mal den Hirntumor, den ein befreundeter Kollege ihm diagnostiziert, und geht einfach weiter arbeiten. Ungefragt schickt ihm der Kollege daraufhin die patente junge Krankenhausärztin Dr. Nathalie Delezia (Marianne Denicourt) zur Einarbeitung und späteren Vertretung. Nur dass der Arzt partout keine Vertretung will.

Der Beginn einer Dorfarzt-Dramedy mit romantischen Verwicklungen und rührseligem Finale ist das, könnte man jetzt denken. Aber so was kommt dem Franzosen Thomas Lilti ("Hippocrate") gar nicht in den Sinn. Selbst ehemaliger Allgemeinarzt, weiß der 40-jährige Regisseur und Drehbuchautor genau, was er zeigen will: den harten Alltag eines Arztes, der seinen Beruf noch aus Überzeugung erlernt hat. Entsprechend kann man alberne Situationen oder ulkige Patienten in "Der Landarzt von Chaussy" ziemlich lange suchen. Stattdessen folgt das Drama dem herben Dr. Werner und der robusten Dr. Delezia auf jedes einsame Gehöft, in jedes muffige Wohnzimmer und von dort aus tief in die Krankengeschichten, wie desillusionierend und trostlos sie auch sein mögen. Selbst die Gefühle, die etwa ab der Filmmitte zwischen den beiden Ärzten aufkeimen, deutet Lilti nur mal kurz an, um sie gleich wieder im nächsten Schwung Hausbesuche untergehen zu lassen. Die Arbeit geht vor.

Liltis Film versteht sich als durchaus kritisches Sozialdrama. Als Porträt einer vom Staat und vom Gesundheitssystem vergessenen ländlichen Welt, in der mit Werner und Delezia gleich mehrere Gegensätze aufeinanderprallen: Alt und Jung, Mann und Frau, Tradition und Fortschritt. Weil aber beiden der Job über alles geht, passiert das alles ohne laute Gefühlskoller oder dramatische Szenen, selbst als Dr. Werners Tumor die ersten Symptome zeigt. Bei all den bis in die Nebenrollen hinein liebevollen Charakterzeichnungen, den nächtlichen Notfällen und Patientengesprächen hängt der Plot zwischenzeitlich schon mal durch. Aber als Zuschauer sollte man, wie Dr. Delezia, in dieser Hinsicht vielleicht einfach dankbar von Dr. Werner lernen. Gute Dinge brauchen nun mal Zeit.

Der Landarzt von Chaussy, Frankreich 2015, Regie: Thomas Lilti, mit François Cluzet, Marianne Denicourt, 102 Minuten

(RP)
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