Kinostart von "Die Verführten" Schlechtes Wetter im Mädchenpensionat

Düsseldorf · Das neue Drama "Die Verführten" von Regisseurin Sofia Coppola ist ein sehenswertes Kammerspiel über Atmosphären und Gestimmtheiten.

 Elle Fanning bittet Nicole Kidman, die Abendandacht verlassen zu dürfen. Würde Kidman die Gründe kennen, ließe sie die Schülerin nicht gehen. Rechts neben den beiden sitzt Kirsten Dunst.

Elle Fanning bittet Nicole Kidman, die Abendandacht verlassen zu dürfen. Würde Kidman die Gründe kennen, ließe sie die Schülerin nicht gehen. Rechts neben den beiden sitzt Kirsten Dunst.

Foto: dpa

Das ist ein besonderer Film; als atmosphärisches Kino könnte man klassifizieren, was Sofia Coppola da macht. Es geht der Regisseurin nicht in erster Linie um die Handlung, vielleicht nicht mal so sehr um Dramaturgie, sondern um etwas Abstrakteres: um Stimmungen. Es gibt einen Satz des britischen Malers John Ruskin, der im 19. Jahrhundert das Allerflüchtigste studiert hat, die dahineilenden Wolken nämlich: treibendes Grau, treibendes Blau, ziehendes Licht.

Ruskin wurde durch sein Studium der Unbeständigkeit weise: "Denn was ist euer Leben?", fragte er. "Ein Dampf ist's, der eine kleine Zeit währt und dann verschwindet." Man könnte sagen, von diesem Dampf, von der spukhaften, obskuren und unbeständigen Essenz des Seins also, handelt "Die Verführten".

Der Film beginnt wie ein Märchen. Ein Mädchen betritt im Jahr 1864 die Wälder Virginias. Man hört aus weiter Ferne das Grauen des Bürgerkriegs branden, Trommeln und Schüsse. Das Mädchen durchschreitet dichte Nebel und von Blätterwerk gefiltertes Sonnenlicht. Das Mädchen sucht Pilze und findet einen Verwundeten (Colin Farrell). Fürchtest du dich?, fragt er. Nein, antwortet sie. Ich aber, sagt er.

Das Mädchen führt den Soldaten in das von einem massiven Eisenzaun eingefriedete und einst herrschaftliche, nun aber verwahrloste Haus mit den falschen ionischen Säulen, in dem sein Pensionat untergebracht ist. Nur fünf Elevinnen leben noch dort, die Sklaven sind längst fort. Es ist eine Welt im Untergang, die der Mann betritt.

Die zwei Lehrerinnen der Einrichtung kümmern sich um ihn, Nicole Kidman und Kirsten Dunst, und natürlich kommt mit dem Kerl von draußen die Leidenschaft ins Haus. Coppola inszeniert das klug, das Zeichensystem der Zuneigung, das Kichern, die Blicke, ein verrutschtes Lächeln, eine ohne Not aus der Stirn gewischte Locke. Auch im Paradies herrscht nun Krieg, und die Trophäe ist der männliche Gast.

Als Vorlage dient Coppola der gleichnamige Roman von Thomas Cullinan aus dem Jahr 1966, der 1971 bereits von Don Siegel mit Clint Eastwood verfilmt wurde. Es ging in jener Produktion auch um Rassenkonflikte. Coppola interessiert dieser Aspekt indes gar nicht, sie strich eine wichtige dunkelhäutige Figur aus der Handlung, denn sie macht keinen politischen Film, sondern hat ein Gemälde im Sinn. Mehrfach lässt sie die Kamera in den Himmel blicken und Wolken filmen. Sie zeigt, wie unwillig das Licht abzieht, wenn es Nacht wird. Die Räume werden lediglich von Kerzenschein erhellt; honiggelb, beige und braun sind die Grundfarben dieses Kammerspiels.

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Foto: Chris Pizzello/Invision/AP/Chris Pizzello

Die Szenerie mutet an wie im Mittagsschlaf, doch unter dem Schleier aus Mattheit brodeln Wolllust, Neid und Eifersucht. Die Lehrerinnen und die älteste Schülerin (Elle Fanning) werben um den Mann, der rasch gesundet. Farrell spielt zunächst zurückhaltend, er weiß nicht recht, wie ihm geschieht, aber je besser es ihm geht, desto spöttischer blickt er in die Arena, in die sich das Haus verwandelt hat.

Kongenial drückt die von der französischen Band Phoenix produzierte Musik die Stimmungsschwankungen des Personals aus. Sie wirkt wie ein Wetterbericht der Gestimmtheiten. Ohne Bilder und Worte macht sie das Kommen und Gehen nachvollziehbar, das Steigen und Fallen, Übergänge, Dynamik und Färbungen. Die Musik ist manchmal nur ein Summen, das mit dem Zirpen von Grillen angereichert wird, mit dem Rauschen der Blätter und mit Schritten auf ächzenden Dielen.

Und wer die Augen schlösse, was dumm wäre, würde hören, wie die Idylle allmählich zur Bedrohung wird. Der Streit zwischen den Frauen eskaliert schließlich, und gegen Ende gibt Coppola ihrem Film eine Wende ins Schauerliche. Man möge ihr eine Säge und das Anatomiebuch bringen, sagt Nicole Kidman. Man weiß nun, dass Colin Farrell sich ganz zu Anfang durchaus zu Recht gefürchtet hat.

Dieser Effekt wirkt jedoch wie ein Zugeständnis ans landläufige Kino. "Die Verführten" ist in diesem Sinne denn auch kein packender, sondern bleibt ein kaum zu greifender Film. Coppola sieht lieber dem Licht beim Schmilzen zu, sie macht den Zug der Wolken hörbar und fängt Schatten ein. Im Grunde tut sie seit den "Selbstmordschwestern", ihrem Debüt aus dem Jahr 1999, stets das gleiche: Sie erzählt vom Vergehen der Zeit, sie dehnt den Moment, und in jedem Film hat sie eine neue Methode ausprobiert, um ihr Ziel zu erreichen; in "Lost In Translation" ebenso wie in "Marie Antoinette", "Somewhere" und "The Bling Ring".

Essayistisches Filmemachen ist das. Coppola hievt es auf ein neues Niveau.

Die Verführten, USA 2017 - Regie: Sofia Coppola, mit Nicole Kidman, Kirsten Dunst, Elle Fanning, 93 Min.

(hols)
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