Ryan Reynolds in "Deadpool" Der schrägste Held des Marvel-Universums

Los Angeles · Es ist nicht immer angenehm, übernatürliche Kräfte zu haben: "Deadpool" ist eine faszinierende Comic-Verfilmung. Der Mann ist ein Killer, ein Zyniker, ein Nihilist. Er schert sich wenig um Fairness und fühlt sich keinesfalls für den Schutz der leidenden Allgemeinheit zuständig. Er arbeitet als Auftragsmörder.

Es ist nicht immer angenehm, übernatürliche Kräfte zu haben: "Deadpool" ist eine faszinierende Comic-Verfilmung.

Der handelsübliche Superheld trägt ein gutes Herz unter einem knallbunten Kostüm. Allenfalls verbirgt er unter einem dunklen Kostüm den verbissenen Vorsatz, dem Licht zum Sieg über das Dunkel zu verhelfen, so wie Batman. Der täuschend genretreu in einem rot und blau gefärbten Gymnastikanzug mit Vollmaske auftretende Deadpool ist ein wenig anders. Unter seinem kecken Kostüm wabert das moralische Chaos. Der Mann ist ein Killer, ein Zyniker, ein Nihilist. Er schert sich wenig um Fairness und fühlt sich keinesfalls für den Schutz der leidenden Allgemeinheit zuständig. Er arbeitet als Auftragsmörder.

Wüstes Treiben, aus dem Gutes hervorgeht

Dass man ihn trotzdem nicht den Superschurken zurechnen muss, verdankt die Welt vermutlich Deadpools irritierendem Sinn für Humor. Er findet Großverbrecher genauso lächerlich und nervtötend wie Superhelden, was letztlich dazu führt, dass er sich in wüstes Treiben stürzt, aus dem dann doch Gutes hervorgeht. So zeigt ihn auch die erste Hollywood-Produktion, die ihn den Mittelpunkt stellt.

Der Plot von "Deadpool" könnte, wenn man ihn mit Zuckerwasser auf eine Glasplatte schriebe, eine Fruchtfliege keine zehn Minuten satt halten. Deadpool (Ryan Reynolds) gerät mit dem Superfiesling Ajax (Ed Skrein) aneinander, der seine Ex-Freundin (Morena Baccarin aus "Homeland") entführt. Rückblenden zeigen, wie weit die Feindschaft zurückgeht, und liefern die Ursprungsgeschichte, wie aus Wade Wilson Deadpool wurde.

Begehbare Fotografie zeigt Höhepunkt einer Action-Eskalation

Aber man schaut sich Superheldenfilme ja nicht wegen des Plots an. "Deadpool" beginnt mit einer jener 3-D-Sequenzen, in denen sich die virtuelle Kamera durch eine eingefrorene Welt bewegt. Die begehbare Fotografie zeigt den Höhepunkt einer Action-Eskalation, die Fahrt der Kamera provoziert die Zuschauer damit, dass zunächst nur Elemente eines zunächst nicht fassbaren Bildes zu sehen sind. Ein schon schwer demoliertes Auto scheint da in der Luft zu hängen, mehrere Personen interagieren höchst gewaltsam, Waffen kotzen Feuer und Verderben, ein fliegendes Motorrad wird auch erkennbar. Regisseur Tim Miller, wenn wundert's, ist von Haus aus Spezialist für digitale Effekte.

Es braucht eine Weile, bis sich die große Frage "Was ist da eigentlich los auf der Leinwand?" in die noch größere verwandelt: "Wie konnte es denn so weit kommen?" Das macht durchaus Spaß und gibt das Thema dieses Kinoabends vor. Wir müssen versuchen, Verrücktheit zu ordnen und zu bewerten.

Mutation hat Deadpool schlimm entstellt

Als Labormaus eines Folter- und Forschungsprogramms hat Deadpool Selbstheilungskräfte mitgebracht, die Schusswunden wegputzen wie Schuhbürsten Schlammspritzer. Aber die Mutation hat ihn auch schlimm entstellt. Seine Deadpool-Maske dient nicht nur der Anonymität.

Und vielleicht spiegelt die äußere Verwüstung die innere. Man hält Deadpools Drohen und Höhnen so lange für lustiges Macho-Gehabe, bis man ihn im Kampf sieht. Der Kerl köpft, durchlöchert und zerfetzt seine Gegner. Und hat dann gleich wieder einen Spruch auf Lager.

Regie führte Tim Miller

Man kann Tim Millers Film also hinter der Maske der Gaudi für eine der schrecklichsten Comicverfilmungen Hollywoods halten. Man kann ihr alternativ bescheinigen, sie überdrehe Gewalt und Protzgehabe so, dass jede Verwechslung mit der Realität ausgeschlossen sei.

Man kann ihr aber zugleich auch unterstellen, sie gehe übers Schenkelklopfen und Augenzwinkern hinaus, zeige das harmlos Absurde der Kinogewalt, aber zugleich dankenswerterweise das Psychopathische moderner populärer Helden. Und da wird es interessant.

Nimmt es die ganze Traumwelt auf die Schippe?

Ryan Reynolds trägt als Deadpool wirklich eine Maske, die nicht glatt anliegt, sondern sichtlich die Ohren an den Kopf drückt, die Nase quetscht, vom Kiefer erst gedehnt werden muss, um das Sprechen möglich zu machen. Man soll sehen, wie unkomfortabel so eine Kostümierung wäre. Deadpool selbst kommentiert das. Macht das nun ihn und seine Gewalttaten realer, oder nimmt es die ganze Traumwelt der Kinosuperhelden frech auf die Schippe?

Schon der Deadpool der Hefte hat die Fans des Marvel-Universums gespalten. Viele hassen ihn, weil Irrlicht die ganze Marvel-Welt neu ausleuchtet, ihr Pathos ruiniert. Auch auf der Leinwand knackt Deadpool die Illusion einer realen, in sich geschlossenen Welt. Dass er es etwa mit den X-Men zu tun bekommt, aber stets nur deren Nebenfiguren Colossus und Negasonic Teenage Warhead trifft, kommentiert er mit dem Vorwurf an die Produzenten, sie hätten sich wohl niemand anderen leisten können.

Ein Superheld für die Ära völliger Selbstverliebtheit

Man kann das Phänomen Deadpool auch so interpretieren: dass er ein Superheld für die Ära völliger Selbstverliebtheit sei. Dem Kerl ist egal, ob er den Mythos des Helden ruiniert und das Gift der Lächerlichkeit in andere Filme spritzt, Hauptsache, er kommt cool rüber. Als er seinen ersten Kinoauftritt als Nebenfigur in "X-Men Origins: Wolverine" hatte, trat er übrigens in stark verfremdeter Form und mit zugenähtem Mund auf. Vielleicht hatten die Produzenten Angst vor dem Wirken seines Mundwerks.

Deadpool, USA 2015, Regie: Tim Miller - MIt: Ryan Reynolds, Morena Baccarin, Ed Skrein, T.J. Miller, Gina Carano, 106 MIn.

(RP)
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