Keine Dialoge, nur Gesang "Les Misérables" - ganz großes Musical

Düsseldorf · Taschentücher und Ohrenstöpsel sind bei dem Filmmusical "Les Misérables" angesagt. Es gibt keine Dialoge, dafür umso mehr Gesang. Regisseur Tom Cooper liefert eine tränenreiche Kinoversion mit vielen Stars, die selber singen. Anne Hathaway und Hugh Jackman haben Oscar-Chancen.

Szenen aus "Les Misérables"
8 Bilder

Szenen aus "Les Misérables"

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Man mag nicht glauben, dass ein Musical auf der Leinwand so gut funktioniert, es fallen einem ja genügend Beispiele für misslungene Singspiele im Kino ein. Zuletzt war da etwa das fürchterliche "Nine" mit Penelope Cruz und Nicole Kidman. Aber hier ist alles anders, "Les Miserables" ist ein Sieg über das Vorurteil. Es gibt vielleicht drei gesprochene Sätze in diesen 159 Minuten, der Rest wird gesungen, teils frontal in die Kamera hinein, und dennoch ist das ein Film, der auch Musical-Verächter glücklich machen dürfte; sie werden den Abspann gereinigt und geläutert erleben — Katharsis total.

Tom Hooper heißt der Regisseur dieser 61-Millionen-Dollar-Produktion, er ist der Mann, der 2010 mit "King's Speech" vier Oscars gewann. Nun nahm sich der 41-Jährige des 1300-Seiten-Epos "Les Misérables" (dt. "Die Elenden") von Victor Hugo an, eines überwürzten, aber schmackhaften Stücks Literatur. Die Handlung setzt im Jahr 1815 ein, im Mittelpunkt steht der französische Strafgefangene Jean Valjean, der bestraft wurde, weil er in höchster Not ein Stück Brot gestohlen hat. Valjean verbüßt die Strafe, kommt frei, wird rückfällig, aber ein Bischof bewegt ihn zur Umkehr — er ist der Erste, der ihm Gnade zuteil werden lässt, der ihm zuneigt und ihn als Menschen schätzt. Valjean nimmt einen anderen Namen an, bringt es zum Bürgermeister, er wird ein honoriger Bürger. Aber er findet keine Ruhe, denn Polizei-Inspektor Javert verfolgt ihn, der will beweisen, dass schlechte Menschen schlecht bleiben und widmet dieser Jagd sein Leben. Das Finale spielt 1832, der Juniaufstand gegen den Bürgerkönig Louis-Philippe in Paris wird niedergeschlagen. Über der Geschichte weht die rote Fahne.

Hugh Jackman ist großartig als Jean Valjean, direkt in der ersten Szene spürt man, wie sich Gänsehaut bildet. Die Kamera fliegt über ein mächtiges Schiffswrack, Hunderte Sträflinge ziehen es mit Muskelkraft an Land, dann sieht man Jackman in Großaufnahme, er kündet singend von seinem Leid. Sein Gegenspieler ist Russell Crowe, er macht aus dem Inspektor einen grollenden Bären. Crowe spielt uneitel, er singt auch nicht, sondern akklamiert; das ist ein Rufen, aber das passt, es ist ganz wunderbar.

Den Stoff kann man leicht verkitschen, da sind einfach zu viele Witwen und Waisen, zudem Heerscharen von gefallenen Frauen. Das Unrecht stinkt meilenweit gegen den Wind, die Helden sind ohne Zweifel stark und rein, und wenn nichts mehr geht, macht sich ein versteckter Wohltäter bemerkbar. Tom Hoopers Kniff besteht indes darin, die Vorlage mit großer Ernsthaftigkeit zu behandeln. Komisch sind allein die von Helena Bonham Carter und Sacha Baron Cohen gespielten Wirtsleute. Sie sorgen für Heiterkeit im malerischen Dreck der düsteren Kulissen, die allesamt Gemälden von Delacroix, Gericault und Manet nachempfunden wurden.

Tatsächlich bringt "Les Misérables" jede Saite im Zuschauer zum Klingen, das ist eine beinahe drei Stunden lange Wanderung durch das Ur-Gefühl. Wer Anne Hathaway beim Schwanengesang der armen Mutter erlebt, die zuerst ihr Haar, dann die Backenzähne verkaufen und sich schließlich prostituieren musste, wird Tränen zurückhalten: "Life has killed the dream I dreamt." Und wer die Massenszenen sieht, dem Gesang der Unterdrückten auf den Barrikaden zuhört, wird mit den Zähnen knirschen und die Faust in der Tasche ballen.

Solo-Darbietungen und Chöre sind fein aufeinander abgestimmt, die Produktion hat geradezu physische Kraft, und man meint zu spüren, wenn sie ihre Adern hervortreten lässt und die Muskeln anspannt, wie sie verschnauft und Atem holt. Die Schauspieler durften ihre Texte nicht vorab einsingen, sie hatten dies vor laufender Kamera zu tun, per Knopf im Ohr von einem Pianisten begleitet. Das Orchester wurde später zugemischt, und auf diese Weise bekommen die Performances Intensität, Farbe und — so paradox das angesichts dieses Zuviels an Elend, Sentiment und Tragik klingen mag — Authentizität. Jede Figur ist glaubhaft in dem, was sie verkörpert, jede steht für ein Prinzip, aber keine ist Kopfgeburt, sondern stets Wesen mit Herz. Dabei hilft es, dass Herbert Kretzmer Verse zu den Kompositionen von Claude-Michel Schönberg geschrieben hat, die einfach sind und direkt, deren Reime nicht künstlich wirken oder erzwungen, sondern der Eingängigkeit dienen. Die englischen Lyrics halten die Aufmerksamkeit des Zuschauers, entwickeln Themen, treiben das Geschehen voran, geben dem Werk Kohärenz. Bei uns wird der Film mit Untertiteln gezeigt.

Die Liebe ist das Leitmotiv, die profane wie die heilige, und dass der Mensch Hoffnung braucht, um glücklich sein zu können, das ist natürlich die Botschaft. Am Ende steht die Erkenntnis, dass Veränderung nur durch Widerständigkeit zu erreichen ist, dass die Abschaffung sozialer Ungerechtigkeit mit dem Aufstehen des Einzelnen beginnt. Der Zuschauer macht so ziemlich jede existenzielle Erfahrung, die möglich scheint und also bereits millionenfach durchlebt wurde. Aber weder Abgebrühtheit noch Romantik-Aversion und Medienerfahrung nützen etwas: Man fühlt sich erschüttert von dieser Flaschenpost aus dem 19. Jahrhundert.

Das Kino verlässt man nicht gehend, man erhebt sich und marschiert. Die anderen werden schon folgen.

(RP/sap/nbe/csi)
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