"Phantastische Tierwesen..." Zu Besuch bei Harry Potters Vorfahren

Mit "Phantastische Tierwesen und wo sie zu finden sind" beginnt eine neue Film-Reihe nach Büchern von Joanne K. Rowling.

Accio! So lautet der Spruch, den man in der Zauberschule lernt, wenn man entfernte Dinge herbeirufen möchte. Im magischen Alphabet des Internats Hogwarts steht er an zweiter Stelle. Fünf Jahre ist es nun her, seit der letzte "Harry Potter"-Film im Kino lief. Millionen Muggel aus aller Welt trugen damals Trauer, weil Joanne K. Rowling, die Mutter der magischen Abenteuer, Endgültigkeit spüren ließ.

Aber der Schein trog. Sie schrieb einen Roman über die Enge in Englands Provinz ("Ein plötzlicher Todesfall"), dann - unter dem bald aufgedeckten Pseudonym Robert Galbraith - drei wunderbar altmodische Krimis über den Privatdetektiv Cormoran Strike. Das verkaufte sich alles ordentlich, und Strikes Fälle werden derzeit auch verfilmt - für den TV-Sender BBC One, der Heimat von "Sherlock", "Luther" und "Ripper Street". Aber wonach es die Rowling-Gemeinde wirklich verlangte, das waren Hexenbesen und Zauberstäbe, Hippogreife und knallrümpfige Kröter. Es wurde Zeit, dass irgendwer "Accio!" rief.

So wird nun in London ein Harry-Potter-ist-erwachsen-Theaterstück aufgeführt, das bis zum Nimmerleinstag ausverkauft ist, das zugehörige Buch "Harry Potter und das verwunschene Kind" verkauft sich wie "Bertie Botts Bohnen jeder Geschmacksrichtung". Und nun hext ein Vorfahr auf der Leinwand: Newton Artemis Fido Lurch Scamander aus dem Hause Hufflepuff.

Der ist ein Magizoologe, also ein Wissenschaftsmagier, der sich um Kartografierung und Erhalt der zauberischen Fauna auf Erden kümmert. Auf dem Rückweg nach England mach er Station in New York. Wie wir seit den Campingzelten der Quidditch-Weltmeisterschaft in "Harry Potter und der Feuerkelch" wissen, kann bei Zauberdingen ein kompakter äußerer Anschein ein geräumiges Inneres verbergen. Scamanders schlichter Reisekoffer ist ein tragbarer Zoo mitsamt Zoologenwohnung, der sich für neugierige Zollbeamte in ein Standardbehältnis für Pyjama und Reiselektüre verwandelt. Leider ist das Schloss des Gepäckstücks ausgeleiert. Ein Niffler entkommt, eine Art Schnabeltier, das vom Klang von Münzen verführt wird, vom Glitzern von Geschmeide aller Art. Zu allem Unglück folgt eine Kofferverwechslung mit dem rundlichen Hobbykonditor Jacob Kowalski (Dan Fogler). Der findet zuhause fantastische Tierwesen vor, die sich bei ihrer Flucht wie lebende Abrissbirnen verhalten. Vor dem Zugriff des New York Police Department werden Newt und Jacob von den Hexenschwestern Tina (Katherine Waterston) und Queenie Goldstein (Popstar Alison Sudol) gerettet. Jetzt müssen nur noch die ausgebüxten Viecher eingekesselt werden.

Ein Klima der Paranoia herrscht im Amerika dieses Paralleluniversums. Wir schreiben das Jahr 1926, die Weltwirtschaftskrise hängt wie eine Ahnung über dem regengrauen Big Apple, das Stahlskelett des Empire State Building befindet sich auf halber Höhe, und die magische Gemeinschaft verhält sich mucksmäuschenstill. Der untergetauchte Gellert Grindelwald hat sie durch sein schwarzmagisches Treiben in Verruf gebracht, überall kleben Plakate auf den Ziegelwänden, die ein "zweites Salem" fordern, also Hexenprozesse. Die Heimleiterin Mary Lou (Samantha Morton) führt ein drakonisches Regiment über Zaubererwaisen. Geschundenster im Kreis der zu Resozialisierenden ist der halbwüchsige Credencer (Ezra Miller), der auch von einen Mitglied des Magischen Kongresses (Colin Farrell) bedrängt wird, ein geheimnisvolles Kind zu finden und damit sein Aschenputteldasein zu beenden. All das vollzöge sich leise und heimlich, wäre da nicht der plötzliche Krach der Kreaturen Scamanders. In deren Getöse geschieht ein Mord an einem potenziellen Präsidentschaftskandidaten.

Wuchs die Potter-Reihe von Jugend- zu Erwachsenenbüchern, wendet sich der "Tierwesen"-Film an die groß gewordenen Hogwarts-Freunde. Rowling schrieb das Drehbuch, immer wieder seufzt John Williams' alte Potter-Filmmusik schwer zwischen James Newton Howards pompösen neuen Tönen. Vertraute Namen fallen: Hogwarts, Lestrange, Dumbledore. Und natürlich ist von "Muggeln" die Rede, auch wenn nichtmagische Menschen in New York "No-Madschs" genannt werden.

Oscar-Preisträger Eddie Redmayne ist als unbekümmerter Rotschopf Scamander das größte Pfund eines Films, der zu sehr auf Schauwerte setzen muss, als dass seine Botschaft, gegen alle Intoleranz einzutreten, so richtig an den Zuschauer gebracht würde. Die Stadt, die schon vor 90 Jahren nie schlief, sieht in ihrem Zwanzigerjahregepräge freilich hinreißend aus. Die putzigen Tierwesen erfüllen unsere Sehnsucht nach den Sensationen der Manege, die vom Zirkus seit Erfindung des Kinos nicht mehr richtig befriedigt werden konnten.

"Tierwesen 2" wird am 16. November 2018 ins Kino kommen, Teil 3 am 20. November 2020. Vom "ersten Seitenfranchise" spricht Warner, und Wetten werden abgeschlossen, ob man eines Tages nicht auch Harry wieder im Kino treffen werde.

Phantastische Tierwesen und wo sie zu finden sind, Großbritannien, USA, 2016 - Regie: David Yates, mit Eddie Redmayne, Katherine Waterston, Dan Fogler, Colin Farrell, Samantha Morton 140 Min.

(RP)
Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort