"Moonrise Kingdom" neu im Kino Wo die Neurosen blühen

Düsseldorf · Mit "Moonrise Kingdom" legt Wes Anderson ein skurriles Romeo-und-Julia-Abenteuer vor, in dem zwei Kinder aus der neurotischen Welt der Erwachsenen flüchten. Ein weiser, verspielter, großartig komponierter Film über zwei Außenseiter, die früh verstehen, was Liebe ist.

Wes Andersons "Moonrise Kingdom"
11 Bilder

Wes Andersons "Moonrise Kingdom"

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Sam sieht das Mädchen im Rabenkostüm und weiß, dass der düstere Vogel und er füreinander bestimmt sind. Suzys Augen mit der schweren Kajal-Bemalung haben diesen traurigen, trotzigen Blick, den er selbst genau kennt. Er ist doch auch ein Außenseiter, ein Ungeliebter, ein schwieriges Kind — "seelisch gestört", sagen die Erwachsenen.

Dabei ist Waisenjunge Sam nur stur in seinem Urteil und beharrlich in seinen Entschlüssen. Darum schreibt er einen knappen Abschiedsbrief, als sich die Gelegenheit bietet, steckt den Kompass ein, schlüpft aus dem Pfadfinderlager und macht sich mit Suzy auf in die Wildnis. Die beiden flüchten aus einer Welt, in der sie keiner mag, wie sie sind. Sie haben nun einander. Und sie haben verstanden, was lieben bedeutet: zueinanderstehen ohne Bedingungen.

Andersons Filmwelt

So eigenbrötlerisch, wie er seine Figuren anlegt, dreht Wes Anderson seit Jahren unbeirrt diese traurig-komischen Filme über hochsensible Nerds, Menschen aus defekten Familien mit seelischen Verwundungen. Doch sind diese Figuren bei ihm nie Schwächlinge, mit denen man Mitleid haben müsste. Sie sind tapfer, aufrecht, manchmal zornig, weil die Erwachsenen zu sehr mit ihren Beziehungsschwierigkeiten, Lebensenttäuschungen, Depressionen beschäftigt sind, um andere wahrzunehmen. So verlassen sich die Kinder auf sich selbst, türmen auf einer malerischen Insel vor der Küste Neuenglands in unwegsames Gelände.

In einer einsamen Bucht bauen Sam und Suzy ihr Zelt auf. Sie haben eingepackt, was Jugendlichen wichtig erscheint, Plattenspieler, Lieblingsbücher, Trapper-Biberpelzmütze, und denken nicht an den nächsten Tag. Sie sind zwei typische Anderson-Figuren: etwas schief ins Leben gebaut, unschuldig und genau darum so verletzlich.

Anderson bläst nun zur Jagd auf das verlorene Romeo-und-Julia-Paar, und er hat dazu hervorragende Darsteller: Edward Norton etwa als unterschätzten Pfadfinderleiter, Tilda Swinton als vergrämtes Fräulein Rottenmeier vom Jugendamt, Bruce Willis als rührend tumben Inselpolizisten, Fargo-Darstellerin Frances McDormand und Chef-Lakoniker Bill Murray als Suzys ehe-erschöpfte Eltern. Sie alle wollen die Ausreißer zurückholen in ihre Ordnung, ohne dass dadurch irgendein Problem gelöst würde. Die Erwachsenen wirken hilflos in ihrem Aktionismus, viel prekärer als die getürmten Kinder, die mit traumwandlerischer Sicherheit durch den Wald wandeln.

Dabei ist zumindest Suzy doch gar nicht ausgerüstet für eine solche Expedition mit ihren weißen Kniestrümpfen und dem gelben Hartschalenkoffer. Geländetauglich ist sie nicht, aber sie vertraut ihrem Scout. Und der biegt ihr Schmuck aus Angelhaken, bohrt ihn in ihre Ohrläppchen. Die beiden werden Blutsgeschwister, Seelenverwandte sind sie ja längst.

Im Hintergrund braut sich derweil ein mächtiger Sturm zusammen, der dem Film ein prächtiges Finale bescheren wird. Zu diesem dramaturgischen Crescendo erklingt feierliche Filmmusik von Benjamin Britten: "The Young Person's Guide to the Orchestra" — ein Stück, das Kindern erklärt, wie sich ein Orchester aufbaut. Wes Anderson zeigt uns, wie man einen Film aufbaut, wenn man ein Regisseur ist, der orchestrieren, kauzige Figuren erfinden und arrangieren, Geschichten aus seltsamen Szenen montieren kann.

Als wären es Puppen

Andersons Filme haben etwas Puppenstubenhaftes. Sie sind liebevoll eingerichtet, diesmal im Look der 60er Jahre. Doch dient das nicht dazu, eine historische Wirklichkeit wiederzubeleben. Im Gegenteil: Andersons Welten sind Attrappen, stilisierte Räume, die wirken sollen wie Kulissen, wie Kunstwerke. Dazu bringt er auch seine Kamera betont ungeschmeidig in Stellung.

Anfangs etwa schiebt er sie durch das geräumige Küstenhaus mit Aussichtsturm, in dem Suzy mit drei kleinen Brüdern lebt und die Mutter mit dem Megafon zu Tisch ruft. Die Kamera fotografiert die Zimmer dieses Hauses, während die Bewohner posieren, Alltag spielen. Sie leben nicht in ihren Welten, sie sind dort hineingestellt, um uns etwas zu zeigen. So macht die Kamera den Zuschauer zum Beobachter, zum Komplizen.

In seinem vorigen Film "Der fantastische Mr. Fox" hat Wes Anderson es noch weiter getrieben mit der Künstlichkeit, indem er die Geschichte gleich ganz von Puppen spielen ließ. Diesmal erzählt er eine unwirkliche Ausreißer-Romanze im Milieu von Pfadfindern, die bei ihren Geländespielen ja auch immer so tun als ob.

Andersons Filme haben etwas Spielerisches — unbeschwert sind sie keineswegs. Dafür sind die Kinder in seinen Geschichten zu ernst, die Außenseiter zu feinfühlig, zu ungeschützt der Macht der Gruppe ausgesetzt. Trotzdem ist "Moonrise Kingdom" beinahe ein heiterer Film geworden, denn Anderson geht sorgsam, ja liebevoll mit seinen Figuren um, beschenkt sie am Ende gar mit ein wenig Geborgenheit. Das Leben könnte uns mit Happy-Endings überraschen, wenn wir zuließen, dass die Schwachen die Helden werden. Davon erzählt dieser Film. Doch er tut es mit der Wehmut des Märchens.

(RP/csi)
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