"Zweite Chance" im Kino Ein Polizist scheitert an der Welt

Düsseldorf · Mit "Zweite Chance" hat Regisseurin Susanne Bier wieder ein starkes Familiendrama vorgelegt. Ein Polizist tauscht das Baby eines fremden Paares gegen sein eigenes totes. Am Ende weiß der Zuschauer nicht mehr, was gut und was böse ist.

"Zweite Chance" von Susanne Bier: Nikolaj Coster-Waldau scheitert an der Welt
Foto: dpa, mbk

Andreas sehnt sich nach Unschuld, nach ein wenig mehr Glück in der Welt, und das ist kein Wunder. Als Polizeikommissar sieht er jeden Tag schlimme Dinge, zum Beispiel das verwahrloste, kotverschmierte Neugeborene, das er auf dem Badezimmerboden in der Wohnung des Junkie-Pärchens Tristan und Sanne findet, aber nicht mitnehmen kann. Abends kommt er in sein lichtes Designerhaus am Meer und freut sich an seiner bildschönen Frau Anna und Baby Alexander. Sollen doch da draußen alle vor die Hunde gehen.

Wenn man schon ein paar Filme der Dänin Susanne Bier gesehen hat, das Familiendrama "Open Hearts" zum Beispiel oder den Oscar- prämierten Adoleszenzthriller "In einer besseren Welt", weiß man, dass das Idyll in ihrer Welt stets nur Makulatur ist. Am Anfang ihrer Karriere verpflichtete Bier sich dem starren "Dogma"-Regelwerk, davon hat sie sich mittlerweile gelöst. Was ihr blieb, ist der Drang, starke Geschichten über schwache Menschen zu erzählen.

Selbst das Licht leuchtet nur fahl und schwach in Biers farbarmen Bildern, eine fröstelige Kühle liegt über der Landschaft, und in dem Dämmer verschwimmen die Grenzen zwischen Gut und Böse. Eines nachts stirbt Alexander plötzlich im Schlaf. Anna merkt es zuerst und schreit, Wahnsinn in den Augen, sie werde sich umbringen. Andreas fährt zurück zu den schlafenden Junkies und tauscht seinen toten Jungen gegen den lebendigen aus. Er führt Marie das neue Kind vor. Sie will es nicht, er drückt es ihr in den Arm. Eine zweite Chance, drängt Andreas, für uns, für den Kleinen.

Milieuschilderung gehört eher zu Biers Schwächen. Auch hier gibt sie sich mit gängigen, fast plakativen Settings zufrieden. Andreas' und Annas Wohnung ist zu makellos, um real zu sein, Tristans und Sannes Drogenhöhle besteht nur aus Gewalt, Schmutz und Obszönitäten. Doch als Parabel über Schuld und Sühne, als Gleichnis über Selbstbetrug fesselt Biers Sozialkrimi von Anfang an. Und die Besetzung liest sich wie das "Who-is-Who" des skandinavischen Schauspiel-Adels: "Game of Thrones"-Star Nikolaj Coster-Waldau als Andreas, Marie Bonnevie aus "Unschuld" als Anna und "Schändung"-Kommissar Nikolaj Lie Kaas ungewohnt brutal als Junkie.

Ihr ganzes Können als Erzählerin entfaltet Bier an ihren komplexen Figuren. Kaum eine davon bleibt, wie sie zunächst scheint. Nicht Andreas, ein guter Mann, der jede moralische Grenze übertritt beim Versuch, Ordnung ins Chaos seines Lebens zu bringen. Nicht die rätselhafte Anna, die ihrem Mann lächelnd verspricht, dass alles gut wird, obwohl sie fühlt, dass alles verloren ist. Und auch nicht die arme Sanne, grandios zerbrechlich gespielt vom dänischen Model May Andersen, die sich unverhofft zur schillerndsten Figur des Films entwickelt.

Sanne wird unter dem Verdacht verhaftet, ihr Baby ermordet zu haben. So kommt Andreas in die perverse Lage, die Frau zu verhören, deren Kind er gestohlen hat. Provokant und furchtlos verhandelt der Film die Unantastbarkeit der Mutterliebe und die Frage, ob die einen Glück mehr verdienen als die anderen. Und geschickt verwebt er skandinavische Tristesse mit klassischer Suspense: Der allwissende Zuschauer wird zu Andreas' Komplizen, während der sich immer tiefer in seinen Lügen verstrickt.

Bald kann er Sanne nicht mehr in die Augen sehen, verwechselt die Namen der Kinder. Und muss schließlich nach der Leiche seines eigenen Sohnes fahnden, die Tristan in Panik irgendwo vergraben hat.

So nimmt die Dunkelheit stetig zu. Hin und wieder dämmert es ein wenig, und dann treiben im trüben Grau die Strickjacken Ertrunkener im See oder liegen Menschen still neben leeren Kinderwiegen. Irgendwann wird offenbar, dass Andreas das Böse von seiner Welt niemals fernhalten konnte. Auch wenn Anna ihr Bestes gibt, so zu tun. Sie wiegt das fremde Kind wie ihr eigenes, legt es an die Brust und fährt es nachts spazieren. Ein Ritual, das sie schon mit Alexander pflegte und dessen schrecklicher Sinn sich erst vom Ende her erklärt. "Zweite Chance" gehört zu den Filmen, die man zweimal ansehen kann. Schon um all die Hinweise zu bemerken, die sich am Schluss zusammenfügen zu einem furchtbaren Ganzen.

(RP)
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