Oscar-Gewinner Warum Sie "Moonlight" sehen sollten

Düsseldorf · Der Film ist der Oscar-Gewinner 2017. Tatsächlich ist er ein ästhetisch herausragendes und emotional berührendes Drama.

Film "Moonlight": Bilder vom Oscar-Gewinner 2017
2 Bilder

Das ist der Film "Moonlight"

2 Bilder
Foto: dpa, his

Es gibt viele Filme, die eine Geschichte erzählen, und viele Filme, die einen Menschen porträtieren. Aber ganz selten sind Filme, die eine Empfindung ins Bild setzen, Filme nämlich, die vermitteln können, wie es sich anfühlt, ein Mensch zu sein. "Moonlight" ist solch eine Produktion.

"Moonlight" ist der richtige Film im falschen Umschlag. In der vergangenen Woche riefen sie im Dolby Theatre zu Los Angeles zunächst "La La Land" als besten Film aus, aber das war ein Fehler, sie korrigierten sich nach ein paar quälend langen Minuten, und als der richtige Umschlag gefunden war, als also klar war, dass "Moonlight" den Oscar gewonnen hatte, konnten es die Macher gar nicht genießen, weil die Umstände so unerfreulich waren. Dabei ist es gut, dass dieser Film der Sieger ist, er ist hervorragend. Er erzählt davon, wie man seinen Platz im Leben und in der Gesellschaft findet, und er stellt in Frage, was unverbrüchlich scheint, die landläufige Definition von Männlichkeit etwa. "Moonlight" ist ein Film über die Freiheit, deshalb gilt er in den USA bereits als Symbol, als Beleg dafür, dass es nur ein Amerika gibt, das Amerika der Menschen: "We the people", so beginnt ja die Verfassung, "Wir, das Volk". "Moonlight" gibt dem Volk eine Stimme.

Der Film erzählt von einem Jungen mit dunkler Hautfarbe, er wächst in Liberty City auf, einem Stadtteil in Miami, in dem die Drogen tödlich sind, die Sonne ihr Licht aber so verschwenderisch streut, dass man zwinkern muss und das Elend erst spät sieht. Der Junge heißt Chiron, er hat keinen Vater, und seine Mutter nimmt Crack. Chiron wird von Mitschülern gedemütigt, aber er findet einen väterlichen Freund, der Juan heißt und der Mann ist, dessen Drogen Chirons Mutter in ein Monster verwandeln.

Wer das liest, mag sich automatisch einen Ghettofilm mit Gewaltexzess, Gossensprech und HipHop-Soundtrack vorstellen, einen Film, wie man ihn zig Mal gesehen hat. Aber "Moonlight" ist anders. Er ist in drei Kapitel gegliedert; das erste erzählt vom kindlichen, das zweite vom jugendlichen und das letzte vom erwachsenen Chiron, und in jedem wird er von einem anderen Schauspieler dargestellt. Die Form erinnert an "Boyhood" von Richard Linklater, diese Langzeitstudie über das Bewusstwerden eines jungen Menschen.

Der Zuschauer lernt Chiron ebenso wie Linklaters Helden in Alltagsmomenten kennen. Besonders schön ist die Stelle, in der Juan ihm das Schwimmen beibringt. Der kräftige Mann trägt den eingeschüchterten kleinen Kerl durch das Wasser wie Christophorus. Die Kamera pendelt auf Höhe des Wasserspiegels, mal unter Wasser, mal darüber; sie umkreist die Hauptfiguren, und man hat den Eindruck, man wäre dabei, man wäre der Dritte im Bunde. Tatsächlich wäre man so gerne dabei, denkt man, dann könnte man eingreifen, schützen und bergen, denn dieser Chiron wächst einem ans Herz.

Man kann schwer ertragen, wie sie ihn in der Schule verprügeln, weil er sich zu Jungs hingezogen fühlt und selbst nicht weiß, was das bedeutet. Er diffundiert durch seine Tage wie im Traum, er blinzelt gegen die Sonne, ist sich nicht im Klaren über sich selbst - überall bloß Unsicherheit. Juan kann ihn nun nicht mehr stützen und auch nicht mehr schützen, denn er ist tot. Die Mutter hilft ihm auch nicht. "Du kannst heute nicht hier bleiben, ich bekomme Besuch", sagt sie, weil sie wieder einen Mann erwartet. Also geht Chiron zu Juans Witwe, bei ihr "herrschen Liebe und Stolz", wie sie sagt. Sie beziehen das Gästebett, der stille Junge und die verlassene Frau, und jeder ist auf seine Art unglücklich. Sie sagen nichts, aber sie schauen einander an, und das ist großartig gespielt, weil man wenig sieht, aber viel spürt.

Barry Jenkins heißt der 37 Jahre alte Regisseur, der aus dem Ort stammt, an dem Chiron aufwächst. "Dieser Junge, das bin ich", hat er gesagt. In 25 Tagen schuf er seine zweite Regie-Arbeit, mit 1,5 Millionen Dollar Budget, was in Hollywood nichts ist, gar nichts, wenn man bedenkt, dass eine durchschnittliche Komödie auf 60 Millionen kommen kann. Die Firma von Brad Pitt hat mitproduziert, und entstanden ist Kino, das formal auf der Höhe der Zeit ist - inhaltlich ohnehin. Jenkins spielt mit dem Licht Floridas, manchmal wirken die Einstellungen, als läge ein Instagram-Filter darüber, aber solche ästhetischen Infrastrukturmaßnahmen sind nicht modisch. Sie stellen Unmittelbarkeit her, manchmal ist der Zuschauer so nah am Geschehen, dass der Blick verschwimmt, das Bild wird unscharf. Ruhe kommt durch die Musik von Nicholas Britell in die Erzählung, Geige und Cello, manchmal Klavier, das ist alles. Existenzielle Herzkammermusik.

Im letzten Teil des Triptychons ist Chiron selbst ein Dealer, und man sucht in seinem massigen Körper ständig das feine Kind von einst. Man findet es bald, in seinen Augen nämlich und in jener Szene, als der zufällig zum König der Straße erwachsene Chiron seinem Jugendfreund wiederbegegnet, dem einzigen, dem er sich je genähert hat. Mehr als ein Jahrzehnt ist vergangen seither, der Freund hat Frau und Kind, er arbeitet als Koch, und als er Chiron sein Essen bringt, nimmt der seine "Grillz" ab, das sind goldene Blenden, die man vor die Zähne klemmt, das Statussymbol der harten Jungs. In diesem Moment fallen die Masken: zwei Männer, totale Verletzlichkeit. Die Schluss-Szene, die sich daraus ergibt, ist das Bild, auf das der Film zuläuft. Sie ist so bewegend, dass sie allein den Oscar verdient hätte.

(hols)
Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort