Die besten Filme aller Zeiten Platz 9: "Sprich mit ihr" von Pedro Almodóvar

Düsseldorf · Es ist eine widerliche Geschichte, die der spanische Regisseur Pedro Almodóvar seinem Publikum da zumutet: Ein Pfleger missbraucht eine Patientin, die im Koma liegt – ein Mann macht sich die totale Hilflosigkeit einer Frau zunutze und fliegt erst auf, als die Bewusstlose schwanger wird. Pervers, schauerlich, was für ein Drama soll das ergeben?

Es ist eine widerliche Geschichte, die der spanische Regisseur Pedro Almodóvar seinem Publikum da zumutet: Ein Pfleger missbraucht eine Patientin, die im Koma liegt — ein Mann macht sich die totale Hilflosigkeit einer Frau zunutze und fliegt erst auf, als die Bewusstlose schwanger wird. Pervers, schauerlich, was für ein Drama soll das ergeben?

In "Sprich mit ihr" wird man Zeuge dieser Geschichte — und Tränen des Mitgefühls für den Pfleger laufen einem über die Wangen. Und zwar ohne, dass der Regisseur die Tat relativieren oder die Schwere der Schuld bestreiten würde. Almodóvar verklärt nichts, aber er erzählt noch eine zweite Geschichte. Und die handelt von Einsamkeit. Von einem Menschen, der nie gelernt hat, unbeschwert zu leben und der ein Übermaß an Liebe in sich trägt, das nicht weiß, wohin. Almodóvar besitzt die Kühnheit, die andere Seite eines Menschen zu zeigen, der ein Perverser ist. Und damit vorzuführen, dass es keine einfachen Wahrheiten gibt. Niemals. Am wenigsten bei den eindeutigen Fällen.

Benigno ist also einerseits der Psychopath, der isoliert bei seiner kranken Mutter aufwächst, Pfleger ist von Jugend an und darum die Gesetze des sozialen Miteinanders nicht lernt. So einer bildet keine gesunde Persönlichkeit aus, so einer wird auffällig, früher oder später.

Doch Benigno, den Javier Cámara mit einer großartigen, kühnen Naivität spielt, ist auch ein Mensch, dessen Treue und Beharrlichkeit einen rühren. Er ist ein Pfleger, der nicht aufhört, an das Erwachen seiner Koma-Patienten zu glauben und sie als Menschen behandelt, nicht als Fall. So ist man erschreckt von diesem Wahnsinnigen, der sich als Voyeur in eine Frau verliebt, ihr nachsteigt, ihr zu nahe tritt und damit selbst dann nicht aufhört, als sie das Bewusstsein verliert. Doch er ist auch der Mann, der sich Stummfilme anschaut, weil die Frau, die er liebt, diese Leidenschaft erwähnt hat und der an seinen freien Abenden ins Ballett geht, weil sie tanzte. Ein Mensch also, der versteht, dass Lieben bedeutet, von sich selbst abzusehen, achtsam zu sein und stur in seiner Zuneigung, egal, was die anderen sagen.

Almodóvar versucht in "Sprich mit ihr" also nicht, einen Psychopathen zunächst als normalen Menschen darzustellen, dessen perverse Neigung plötzlich zu Tage tritt und den Zuschauer schockieren sollen. Sein Thrill besteht darin, diese Figur den gesamten Film über in der Ambivalenz zu halten, ihren Wahnsinn zu zeigen und ihre Arglosigkeit. Benigno ist verrückt, man möchte ihm nicht in die Hände fallen. Und er ist verletzlich, man möchte ihn beschützen vor dieser Welt.

Diese Verletzlichkeit hat Almodóvar im Werk einer anderen großen Künstlerin gesehen, im Tanz von Pina Bausch. Und so beginnt er seinen Film mit Szenen aus "Café Müller", in denen Pina Bausch selbst zu sehen ist, wie sie immer wieder vor eine Wand läuft, ungeschützt. Almodóvar war mit Bausch befreundet - "heftig und auf ewig" hat er nach dem Tod der Choreografin tief bestürzt gesagt. In seinem Film zeigt er einen Mann, der beim Anblick des Tanztheaters der Bausch weinen muss, er lässt sich rühren von der tiefen Menschlichkeit in deren Tanz. Dieser Mann wird Benignos einziger Freund werden. Und er wird es bleiben, als dessen Tat bekannt wird.

(RP)
Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema