Für ein realistisches Europa

Der Publizist Martin Winter hält nichts von einem idealisierten Europa-Bild.

Am Geld hat es nicht gefehlt. "Nach den Sozialfonds wurden der Europäische Fonds für regionale Entwicklung und der Kohäsionsfonds geschaffen. Über diese Fonds flossen allein zwischen 2000 und 2013 rund 700 Milliarden Euro in jene Gebiete und Länder, die wirtschaftlich hinterherhinken. (...) Das System der Fonds (...) hat nichts bewirkt, (...) sondern politische und wirtschaftliche Lethargie verstärkt." Was sich hier wie ein aktueller Kommentar zu den jüngsten französischen Forderungen zur "Vertiefung" der EU-Währungsunion anhört, stammt aus dem neuen Buch des ehemaligen Brüsseler Korrespondenten Martin Winter, das gerade erschienen ist. Titel: "Das Ende einer Illusion. Europa zwischen Anspruch, Wunsch und Wirklichkeit".

Winter, der zwei Jahrzehnte für "Frankfurter Rundschau" und "Süddeutsche Zeitung" gearbeitet hat, geht breit auf das Thema EU-Wirtschaftsregierung ein, die er unter Verweis auf Helmut Schmidt für unrealistisch hält. Was Winter 2014 aber noch nicht so absehen konnte, ist, dass durch die neuen französischen Vorschläge zu einer Wirtschaftsregierung ein Umschlag von der Quantität in die Qualität droht und die Euro-Krise zu einer beträchtlich ausgeweiteten Dauer-Alimentierung des Südens durch Zentralisierung, Institutionalisierung der Transferunion und (beispielsweise) Vergemeinschaftung der deutschen Einlagensicherungsfonds genutzt werden soll. Die EU würde damit weiter den von Winter ausführlich beschriebenen Weg gehen, fundamentale Probleme lediglich mit noch mehr Geld zu "bekämpfen".

Winter ist ausgerechnet von wissenschaftlicher Seite vorgeworfen worden, den "ideologischen Faktor" der deutschen Europapolitik mit seinem realistischen Ansatz geringzuschätzen. Winter, ein überzeugter, aber eben kein Hurra-Europäer, teilt zwar die meisten europäischen Ziele, hält sie aber nicht (mehr) für realistisch. Dies zieht sich durch das ganze Buch, ebenso wie seine Sorge, "einen disparaten Haufen zusammenzuhalten". Schwerpunkte seines Buches sind die bisherigen Vorstöße zu einer europäischen Wirtschaftsregierung und einer europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik, während die Asylpolitik auf nur drei Seiten abgehandelt wird. Leider fehlt dem Buch ein Anmerkungsapparat, und die Literaturauswahl ist leider dürftig und veraltet.

Winter hat ein mutiges, weil realistisches Buch geschrieben. Welcher Schaden für Europa entsteht, sollte sich Brüssel zum verlängerten Arm der Defizitländer machen, konnte Winter 2014 nur erahnen. Doch wegen seiner präzisen Schilderung ist dem Buch eine weite Verbreitung zu wünschen. Denn, so der Göttinger Rechtsprofessor Frank Schorkopf, "es ist Zeit, die Integration nicht idealisiert, sondern pragmatisch-realistisch zu denken".

(RP)
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