Neue Familienbilder Fürs Leben lernen

Düsseldorf · Lebensumstände von Kindern haben sich enorm gewandelt: Sie wachsen auf in Patchwork-Familien oder bei Alleinerziehenden. Soll das auch Thema in Kinderbüchern werden?

Nicht ganz leicht zu sagen, ob Kindern das Leben früher leichter fiel. Zumindest scheint es übersichtlicher gewesen zu sein und spielte sich zu größeren Teilen als heute im Koordinatensystem von Vater-Mutter-Kind ab. Heute geht es um einiges bunter zu: Ob Vater-Vater- oder Mutter-Mutter-Familien, ob Patchwork-Familien oder Alleinerziehende, auf allen Seiten ist eine Menge Flexibilität gefordert. Und es ist inzwischen gesellschaftlicher Alltag geworden.

Darum stellt sich die Frage, ob all dies auch Thema in Kinder- und Jugendbüchern sein soll, im Grunde nicht. Nachdem vor einigen Jahren der Tod und auch die Politik Einzug in die Lektüre des Lesenachwuchses genommen haben, folgt nun die kunterbunte Lebenswirklichkeit. Zeigen, was es gibt, lautet die politisch korrekte Vorgabe. Wirklich? Müssen oder sollten Kinder schon in jungen Jahren lieber mit bisweilen schwierigen Lebensumständen konfrontiert werden, statt ihre Fantasie entwickeln und spielen lassen zu können? Eine rhetorische Frage, vielleicht. Doch in ihr spiegeln sich Beobachtungen der aktuellen Leseforschung wider. Danach wird auch in Kinderbüchern in der Weitergabe von Familien- und Rollenverständnis ein Kampf zwischen Ideal und Ideologie ausgetragen.

Komischerweise hat es genau das in populärer Form schon früher gegeben, auch wenn es kaum jemanden störte. Etwa in den Heidi-Romanen von Johanna Spyri (1827-1901), in der die Titelheldin ein Waisenkind ist und beim Einsiedel-Opa lebt. Oder das bärenstarke Mädchen Pippi Langstrumpf, das Astrid Lindgren in einer eigenen Villa quasi als Autodidaktin aufwachsen lässt, nachdem die Mutter gestorben und der Vater - inzwischen irgendein Südseekönig geworden - seinen Erziehungs- und Betreuungspflichten sehr leger, also eigentlich gar nicht nachkommt. Schöne alte Welt also? Diese Geschichten funktionieren aber deshalb, weil sie spannende Literatur und keine Pädagogikgeschütze sind. Auch Heidi und Pippi transportieren selbstverständlich Mädchenbilder und besondere Lebensweisen; doch stets untergründig, nie mit dem Holzhammer. "Wir haben es hingenommen, weil die Familienverhältnisse nie tragende Elemente und die Geschichten darum erst einmal gute Geschichten sind", so der Germanist Ralf Schweikert. Das mag sich banal anhören; doch nur so funktioniert Literatur. Wird der Subtext sichtbar - nach dem Motto: "Achtung Kinder, jetzt kommt ein Problem" -, hat es ein Ende mit dem Spaß am Buch. Das empfand schon Goethe so: "Man spürt die Absicht und ist verstimmt."

Auch wenn es keine Tabuthemen mehr gibt, so müsse man mit dieser Freiheit nicht gleich übertreiben, meint Birgit Schollmeyer, die in ihrer Braunschweiger Fachbuchhandlung zunehmend mit Eltern zu tun hat, die allesamt ihr Kind für hochbegabt erklären und darum ihrer Vierjährigen gerne die Abenteuer von Harry Potter vorlesen wollen. Dass Kindern in diesem Alter Gewaltszenen allerdings schlaflose Nächte bereiten, spielt bei der Bücherwahl allenfalls eine untergeordnete Rolle.

In welcher Absicht auch immer: "Man sollte Kinder nicht auf Ideen bringen, die sie noch gar nicht haben", so die Expertin. Zwei Tipps für Eltern junger Leser von "Problembüchern": Am besten sollte man die Bücher nicht auch noch selbst lesen; vor allem sollte man das Kind nicht dazu befragen oder - weit schlimmer noch - die Geschichte zum Hauptthema der ganzen Familie machen.

Literatur entfaltet ihre Kraft und ihre Wirkung, je eigenständiger und unabhängiger der junge Leser ihr begegnet. Erst in diesem freien Raum wachsen Romanfiguren zu echten Identifikationsfiguren heran. Und erst dann können beispielsweise gleichgeschlechtliche Paare als etwas Selbstverständliches begriffen und akzeptiert werden. Von sehr lesenswerter Literatur gibt es inzwischen zahlreiche Titel. In Zusammenarbeit mit der Stiftung Lesen wurde jüngst eine Liste mit Empfehlungen erstellt, die sich vor allem der "Vielfalt in der Kinderliteratur" widmet. (Eine Auswahl von Titeln dieser Liste finden Sie in der Info-Box.)

Und die Bedeutung der Kinder- und Jugendliteratur nimmt hierzulande rasant zu: Mit mehr als 9000 neuen Titeln im vergangenen Jahr stieg der Umsatzanteil dieser Literatur am gesamten Buchmarkt auf zuletzt 18 Prozent. Deutsche Kinder- und Jugendbücher sind einer der wenigen Zugpferde der seit geraumer Zeit doch stagnierenden Branche.

Doch die Vielfalt der Themen gelangt nicht ohne weiteres auch ans breite Lesevolk. Schulen, so wird bemängelt, würden noch immer extrem in Stereotypen denken. "Hört endlich auf, Kinder in Schubladen zu stecken", so die Autorin Anne C. Voorhoeve. Oft wird in den Klassenzimmern auch aus Bequemlichkeit auf scheinbar Altbewährtes zurückgegriffen. Mit dem Mainstream sei es halt einfach, weil man weiß, was einen erwartet.

Erst kürzlich bekam der renommierte Klett-Verlag eine Auszeichnung, die kein Anlass zur Freude ist. Eine namhaft besetzte Jury kürte die Arbeit der Stuttgarter Verleger mit dem "Goldener Zaunpfahl" - das ist ein sogenannter Negativpreis für Sexismus. So waren bei Klett "Geschichten zum Lesenlernen" erschienen. Die blaue Variante des Lerntrainings war für Jungen bestimmt, mit Geschichten von Polizisten, Piraten und Kosmonauten. Die pinke Ausgabe wurde Mädchen empfohlen. Ihre bunte Themenwelt bestand aus lauter schönen Prinzessinnen.

Ein solches Lesefutter hätte schon Pippi Langstrumpf fluchend verweigert.

(los)
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