Glauben Sie sich nicht alles!

Die Rechtspsychologin Julia Shaw erklärt, wie unser Gehirn mit Erinnerungen umgeht - und warum es so gern fälscht.

Erinnern Sie sich noch an Ihr erstes Kinderzimmer? Wie Sie in Ihrem Gitterbettchen standen? An das Mobile mit den Flugzeugen darüber und an den kleinen Teddy mit der Spieluhr neben dem Kopfkissen? Ja? Totaler Quatsch! Sie können sich daran nicht erinnern. Es sei denn, Sie hätten ungewöhnlich viele Jahre in Ihrem Gitterbettchen verbracht.

Das Alter, in dem Menschen mit der Bildung von Erinnerungen beginnen, die bis ins Erwachsenenalter erhalten bleiben, liegt etwa bei dreieinhalb Jahren, schreibt die Rechtspsychologin und Gedächtnisforscherin Julia Shaw in ihrem Buch über gefälschte Erinnerungen.

Und wie lange solche frühkindlichen Erinnerungen dann wirklich im Gedächtnis blieben, sei noch eine ganz andere Frage: Shaw beschreibt eine Studie, in der Elfjährige auf Fotos von Drei- und Vierjährigen die Kinder erkennen sollten, mit denen sie früher im Kindergarten waren. Die meisten hätten keines der Kinder wiedererkannt, selbst wenn sie Jahre mit ihnen verbracht hatten. Wenn das aber schon Elfjährigen nicht gelingt, dann werden es 40- oder 50-Jährige erst recht nicht schaffen, argumentiert Shaw.

Woran liegt es aber, dass Menschen plastische Erinnerungen haben an Ereignisse aus ihrer frühesten Kindheit, manche sogar an die Zeit im Mutterleib? Wahrscheinlich daran, dass es ziemlich einfach ist, falsche Erinnerungen zu erzeugen: Shaw berichtet von einem Experiment in Neuseeland: Forscher zeigten sechs- und zehnjährigen Kindern gefälschte Fotos, auf denen sie in einem Heißluftballon und beim Tee mit Prinz Charles zu sehen waren. Nachdem die Forscher die Kinder im Laufe von drei Wochen dreimal über die Ereignisse befragt hatten, waren 31 Prozent der Sechsjährigen und zehn Prozent der Zehnjährigen überzeugt, dass die Ereignisse stattgefunden hatten und lieferten ausführliche Details.

Jetzt sagen Sie vielleicht, bei Kindern mag das funktionieren, aber bei mir? Ja, das klappt auch bei Ihnen. Shaw zitiert eigene und fremde Versuchsreihen mit Erwachsenen, mit Ehepaaren, mit Studenten und mit Soldaten der Navy, denen falsche Erinnerungen eingepflanzt wurden - bis hin zu Straftaten, die sie nie begangenen hatten.

Die Vielzahl der Studien und Beispiele, die Shaw zusammengetragen hat, ist eine Stärke des Buchs. Eine andere sind die steilen Thesen der Autorin, die sie mithilfe dieser Studien belegt. "Hypnose? Gibt es nicht", "Freud war überhaupt kein Wissenschaftler" oder "Die einzigen, die von Programmen profitieren, mit denen man Dinge im Schlaf lernen kann, sind die, die solche Programme verkaufen". Die Autorin scheut sich auch nicht, ihren Lesern unangenehme Wahrheiten ins Gesicht zu sagen: "Sie können nicht multitasken" oder "Sie sind hässlicher als Sie denken", wenn sie erklärt, wie der Umgang mit eigenen Fotos in sozialen Medien unsere Selbstwahrnehmung beeinflusst.

Wir erfahren bei der Lektüre viel über uns, unser fantastisches Gehirn, unser großartiges Gedächtnis und noch viel mehr darüber, wie unzuverlässig leider alle drei funktionieren. Shaw erklärt unterhaltsam, anschaulich und ohne viel Fachchinesisch, warum die meisten sich so schwer einen Namen merken können, wenn sie jemanden kennenlernen und wieso es nicht ungewöhnlich ist, Ereignisse, die anderen Menschen passiert sind, als eigene Erlebnisse zu schildern.

Vor allem verstehen wir aber, warum wir bei Straftaten oder Unfällen den Aussagen von Augen- und Ohrenzeugen nicht uneingeschränkt glauben können und warum man in Zeiten von Twitter und Facebook auch auf mehrere übereinstimmende Berichte oft nicht viel geben darf.

"Das trügerische Gedächtnis" ist ein spannendes, witziges und lehrreiches Buch, das Pflichtlektüre sein sollte für Journalisten, Polizisten, Staatsanwälte, Richter und alle anderen, die mit eigenen und fremden Erinnerungen arbeiten müssen.

(sw.)
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