Roman "Straße der Wunder" Herr Irving sucht das Glück

In seinem 14. Roman "Straße der Wunder" erzählt der 74-jährige US-Autor vom Leben des Schriftstellers Juan Diego Guerrero im mexikanischen Oaxaca.

Altersmäßig ist John Irving ein Rentner. Aber der 74-Jährige, der gern Karohemd und Turnschuhe trägt, denkt nicht an Ruhestand. Dafür brennt im amerikanischen Schriftsteller, ehemaligen Ringer und Oscar-Preisträger (2000 für die Drehbuch-Umsetzung des Romans "Gottes Werk und Teufels Beitrag"), dessen 13 Romane in 35 Sprachen übersetzt wurden, noch zu viel Feuer. Obwohl seine jüngsten Romane - "Letzte Nacht in Twisted River" und "In einer Person" - immer ich-bezogener und retrospektiver wurden.

Sein neues Werk, "Straße der Wunder", das über 25 Jahre in seinem Kopf gereift ist, macht da keine Ausnahme: Wie schon in "Garp und wie er die Welt sah" (1978) steht ein Schriftsteller im Mittelpunkt der Handlung, diesmal Juan Diego Guerrero, der nach einem Leben mit jeder Menge geschriebener und gelesener Bücher den Vorruhestand als Uni-Dozent in Iowa bei einer Reise auf die Philippinen genießt.

Dabei erinnert sich der 54-Jährige in fiebrigen Träumen an seine Kindheit in Mexiko, die durch die gleichzeitige Einnahme von Viagra und Betablockern besonders lebhaft ausfallen. Juan Diego ist zweigleisig durchs Leben gefahren: "Ich bin Mexikaner - ich bin in Mexiko geboren und dort auch aufgewachsen", sagt er. Aber er sagt auch: "Ich bin Amerikaner - ich lebe seit 40 Jahren in den USA." Ein erfolgreicher Migrant also. In 32 Kapiteln rollt Irving auf über 700 Seiten sein flirrendes Erinnerungsstück ab, das munter zwischen zwei Zeitebenen wechselt.

Es beginnt 1970 am Rande der mexikanischen Stadt Oaxaca. Dort wachsen die Geschwister Juan Diego und Lupe mehr oder weniger elternlos in der Siedlung Guerrero in der Nähe einer Müllkippe auf. Ihre Mutter Esperanza arbeitet als Prostituierte - und als Putzfrau für ein Jesuitenkloster. Wer ihr Vater ist, wissen sie nicht mit Sicherheit. Der humpelnde Junge, damals 14, liest begierig weggeworfene, angekokelte Bücher und bringt sich selbst Englisch bei, das wundersame Mädchen, 13, kann kaum sprechen - dafür kann es Gedanken lesen. Allein dieser Einfall führt zu feinsinnigen Leseerlebnissen, etwa wenn das Mädchen auf Dinge antwortet, die ihr jeweiliger Gegenüber nur in seinem Kopf bewegt.

Unter der Obhut des Deponiechefs Rivera, der den Geschwistern zum Ersatzvater wird, suchen sie im Müll nach Glas, Aluminium und Kupfer. Eines Tages holt Bruder Pepe aus dem nahen Jesuitenkloster die Kinder ins jesuitische Waisenhaus. Mehr noch als Nächstenliebe treibt den Jesuiten Missionierungseifer um. Später finden die Geschwister im "Circo las Maravillas" die Chance, mehr aus ihrem Leben zu machen: Juan Diego als Hochseilartist, Lupe als Wahrsagerin.

Es ist dieser mexikanische Teil der Geschichte, der für Irvings neuen Roman einnimmt. Der andere Teil dagegen ist oftmals etwas langatmig geraten: Es ist Juan Diegos Reise 2010 auf die Philippinen, auf die ihn seine Freundin und Ärztin Rosemary Stein schickt und auf der er an ein rätselhaftes Mutter-Tochter-Gespann gerät, das ihm mehr Sex verschafft, als er verträgt. Besonders dort, wo sich Irving seitenlang über die katholische Kirche und die verschiedenen Madonnen auslässt, strapaziert er unsere Geduld.

Derzeit ist Irving dabei, den Roman "Garp" für den Bezahlsender HBO in eine Miniserie zu verwandeln. "Dieses TV-Format ist für die meisten meiner Romane viel geeigneter als ein Kinofilm", sagt er. Dabei wurden schon vier seiner Romane fürs Kino verfilmt.

Der Vater von drei Jungs - Collin ist 51, Brendan 47 und Nesthäkchen Everett 25 - lebt seit 2015 mit seiner Frau und Agentin Janet Turnbull im kanadischen Toronto; sein Haus in Vermont steht zum Verkauf. In Summerhill, einem zentrumsnahen Stadtteil der Millionen-Metropole am Lake Ontario, lebt der Naturbursche aus New Hampshire in einem Apartmenthaus auf zwei Etagen - eine als Wohnung, eine fürs Büro.

Mit dem Umzug ist Irving an den Ort zurückgekehrt, der ihn schon immer literarisch beschäftigt hat, so in dem 1000-Seiter "Bis ich dich finde" (2005). Von Toronto aus kann der überzeugte Demokrat und Bewunderer der Flüchtlingspolitik von Angela Merkel die anstehende US-Wahl entspannt beobachten, obwohl ihn die Aussicht, dass Donald Trump zum Zug kommen könnte, wahnsinnig aufregt.

Da hilft eigentlich nur eins: John Irving muss sich wieder an seinen meterlangen Schreibtisch mit Blick auf eine Wand mit Hunderten Privatfotos setzen und - in Reichweite der goldenen Oscar-Figur - einen neuen dicken Roman schreiben. Vielleicht mal einen, in dem es nicht um einen Schriftsteller geht, der ein Buch über einen Schriftsteller schreibt, der ...

(RP)
Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort