Pärnu Hier müssen Dirigenten trinkfest sein

Pärnu · Im estnischen Seebad Pärnu hat die Dirigenten-Dynastie der Järvis mit Festival, Akademie und eigenem Orchester ein musikalisches Sommerparadies geschaffen. Mit seinem Flair zieht es auch internationale Musiker an.

Wenn es Nacht wird in Pärnu, kann man in der Altstadt des estnischen Badeortes ein seltsames Phänomen beobachten: In der kurzen und ansonsten ruhigen Hospidali-Straße stehen sehr viele Menschen draußen und finden oft erst heim, wenn die baltische Nacht mit einem ernüchternden Sonnenaufgang endet. Die Hospidali-Straße ist aber nicht etwa eine neue Anlaufstelle für Pokémon-Jäger, sondern mit dem Café Passion, vor dem sich die Menschen tummeln, das eigentliche Zentrum des sommerlichen Musikfestivals. Denn dort treffen sich den ganzen Tag über und natürlich besonders gerne abends die Musiker, Kursteilnehmer, Star-Virtuosen, Dirigenten, Agenten und Festivalgäste.

Das Café ist nicht besonders groß, dafür aber enorm kommunikativ. Hier kommt jeder mit jedem ins Gespräch. Und das ohne Sperrstunde. Das Café schließt erst, wenn der letzte Gast geht, und sogar die Küche arbeitet bis tief in die Nacht. Der Gedanke einer solchen informellen Anlaufstelle kam nicht zufällig auf, sondern zählte von Anfang an zum Konzept.

Festival-Chef Paavo Järvi ist selbst konditionsstarker Gast des Cafés: "Man braucht ein soziales Zentrum für ein Festival, einen einfachen Laden, der nicht zu früh schließt, wo man ein Glas Wein und ein Sandwich kriegt."

Es ist 9.30 Uhr morgens in Järvis Dirigentenzimmer, gleich beginnt die Probe zum Abschlusskonzert. Man musste kurzfristig umdisponieren, weil Bariton Matthias Goerne krankheitshalber Mahlers "Wunderhorn"-Lieder absagen musste. Nun wird die chinesische Pianistin Zhang Zuo Beethovens erstes Klavierkonzert spielen.

Järvis sonore Stimme klingt verdächtig tief an diesem Morgen, aber er ist hellwach und bester Laune. "Für uns ist Pärnu ein heiliger Ort. Meine Großmutter stammt von hier, und ich habe hier meine Jugend verbracht."

Paavo Järvi leitet seit 2004 die Kammerphilharmonie Bremen und seit 2012 das NHK-Sinfonieorchester Tokio. Er besitzt heute einen amerikanischen Pass, wurde aber in Estland als Sohn des legendären Dirigenten Neeme Järvi geboren. Die Familie verbrachte ihre Sommer in Pärnu, bevor alle die damalige Sowjetunion verließen. Pärnu war im 19. Jahrhundert durch den baltendeutschen Bürgermeister Oskar Brackmann zum mondänen Seebad - damals Pernau - geworden, später traf sich dort die Musiker-Elite der UdSSR. David Oistrach hatte dort eine Datscha, auch Schostakowitsch und Chatschaturjan waren Stammgäste, die mit dem jungen Paavo spielten.

Nachdem Estland 1991 nach dem Fall des Eisernen Vorhangs wieder unabhängig wurde, kamen auch die Järvis gern zurück in ihre alte Heimat. Vater Neeme brachte bereits 2003 den Bürgermeister von Pärnu dazu, einen neuen, elegant verglasten Konzertsaal mit immerhin 900 Plätzen zu bauen.

Seit 2010 leitet nun Sohn Paavo Järvi das Pärnu-Musikfestival. Neben dem international zusammengesetzten Festivalorchester - deren Mitglieder Paavo Järvi selbst rekrutiert - gibt es drei Ensembles der Järvi-Akademie für Nachwuchsmusiker: ein Kammerorchester aus Teilnehmern der internationalen Meisterkurse des Festivals und die "Sinfonietta" mit jungen estnischen Streichern - und das Jugendorchester der Järvi-Akademie aus den beiden kleineren Ensembles. Zwölf Konzerte bieten ein breites Spektrum vom Kinderkonzert mit fein ausstaffiertem estnischen Gessangsnachwuchs über Kammerkonzerte mit Raritäten und zahlreichen Uraufführungen vor ausverkauftem Haus bis hin zum großen Konzert mit Viktoria Mullowa mit Sibelius' Violinkonzert.

Paavo Järvi läuft mit dem Festivalorchester zu großer Form auf, dirigiert Haydn mit eloquentem Temperament und Schostakowitsch mit brennender Intensität; das fabelhafte Orchester sitzt dabei auf der Stuhlkante und verbreitet mitreißenden Elan. Es scheint so, als würde sich hier in Pärnu etwas zusammenbrauen, das schon sehr bald den Vergleich mit Edel-Klangkörpern wie dem Lucerne Festival Orchestra nicht zu scheuen braucht. Tatsächlich will Järvi schon im nächsten Jahr mit dem Orchester international auf Tour gehen.

In Pärnu aber entsteht der besondere Charme dieses temporären Musikrauschs gerade aus dem Miteinander von internationaler Spitzenklasse und Nachwuchs, aus der unprätentiösen Nahbarkeit der Stars und an dem begeisterten Echo, das in den Konzerten und offenen Proben vom überwiegend heimischen Publikum zu spüren ist.

Estland ist ein kleines Land. Aber es bringt enorm viele große Musiker hervor. Komponisten vom Rang Arvo Pärts und Dirigenten und Musiker wie den Järvi-Clan. Woran liegt es, dass die Esten musikalisch so begabt sind? Paavo Jävi sagt es so: "Die Musik ist ein wesentlicher Teil unserer estnischen Identität. Denn ohne das Singen hätte unsere Sprache nicht überlebt. Ein weiteres Plus ist, dass wir eigentlich gar keine alte klassische Tradition haben, erst seit dem 20. Jahrhundert. Das macht uns freier als Länder mit langer Tradition."

(RP)
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