Düsseldorf Ilse Aichinger wird 90 Jahre alt

Düsseldorf · Eigentlich wollte sie nur einen Bericht über die Kriegszeit schreiben. Und am liebsten alles in einem Satz, wie die Schriftstellerin Ilse Aichinger einmal sagte. Als "Die größere Hoffnung" dann bei S. Fischer erschien, war es eins der wichtigsten deutschsprachigen Romane des 20. Jahrhunderts.

Ilse Aichinger, die morgen ihren 90. Geburtstag feiert, wurde in Wien als Tochter eines Lehrers und einer jüdischen Ärztin geboren. Nach dem "Anschluss" Österreichs an Nazi-Deutschland lebte sie isoliert von der Öffentlichkeit, das angestrebte Medizinstudium wurde ihr verwehrt, und sie musste miterleben, wie viele nahe Verwandte von der Gestapo deportiert und später ermordet wurden.

"Eines Tages meldete sich bei uns, auf Empfehlung des Wiener Kritikers Hans Weigel, ein bildschönes, dunkelhaariges Mädchen, krampfhaft ein Papierbündel unter dem Arm haltend." So erinnerte sich der Verleger Gottfried Bermann-Fischer an seine erste Begegnung mit der jungen Aichinger. Hinter dem "Papierbündel", das die Autorin beim Treffen 1947 in Wien mit sich trug, verbarg sich das Manuskript ihres bis heute einzigen Romans, "Die größere Hoffnung".

Es ist ein Buch zwischen Hoffen und Bangen, das um das Schicksal eines jüdischen Mädchens während der Nazi-Zeit kreist. In ihrem literarischen Debütwerk hat Ilse Aichinger auch ihre eigene Kindheit – leicht verfremdet – aufgearbeitet und damit gleichermaßen die persönliche wie kollektive literarische Trauerarbeit geleistet.

Die schlimmen Erfahrungen aus Kindheit und Jugend haben sich nachhaltig auf die späteren literarischen Werke ausgewirkt. "Vielleicht schreibe ich nur deshalb, weil ich keine bessere Möglichkeit zu schweigen sehe", hatte Ilse Aichinger 1971 bei der Verleihung des Nelly-Sachs-Preises erklärt.

Der literarische Durchbruch war ihr 1952 gelungen, als sie auf der Tagung der legendären Gruppe 47 nach der Lesung ihrer berühmten "Spiegelgeschichte" frenetisch gefeiert und als Nachfolgerin von Heinrich Böll und ihres späteren Ehemanns Günter Eich als dritte Preisträgerin der "meinungsbildenden" Elitegilde gekürt wurde.

Die radikale Verknappung der Texte, die lakonisch wirkende Sprache und der sezierende Blick hinter die Fassaden menschlicher Antlitze bestimmen fast alle Werke von Ilse Aichinger. Diese Erzählweise spiegelt sich bereits in den Lektürevorlieben der Schriftstellerin: "Ich lese immer wieder Joseph Conrad. Obwohl mich weder die Gegenden noch die Handlungen seiner Romane im Geringsten interessieren. Aber es ist für mich eine solche Faszination, dass da kein einziger unnützer Satz steht."

Hartnäckig hat sich Ilse Aichinger, die zuletzt 1995 den Österreichischen Staatspreis für europäische Literatur und 2000 den hoch dotierten Joseph-Breitbach-Preis bekam, allen literarischen Trends der vergangenen Jahrzehnte verweigert. Respektable Erfolge hatte sie mit ihren zahlreichen Hörspielen, die ihr (wie auch ihrem 1972 gestorbenen Ehemann Günter Eich) das materielle Überleben sicherten.

Nach dem Unfalltod ihres Sohnes Clemens Eich 1998 – auch er ein erfolgreicher Schriftsteller – hat sich die Autorin aus der literarischen Öffentlichkeit weitgehend zurückgezogen. "Alles Komische hilft mir und macht mich glücklich. Im Kino und überall", erklärte die leidenschaftliche Cineastin. Ihre häufigen Kinobesuche dienen aber auch dazu, um die "Zeit totzuschlagen, weil mir das Leben schon viel zu lange dauert", erklärte Ilse Aichinger.

(RP)
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