Im Labor der Menschenfabrik

In seinem Roman "Null K" entwirft der amerikanische Schriftsteller Don DeLillo die Schreckensvision ewigen Lebens.

Minus zweihundertdreiundsiebzig Komma eins fünf Grad Celsius: der absolute Nullpunkt, beschrieben von einem Physiker namens Kelvin. Diese Temperatur, genannt "Null K", ist für die "Kryostase" ideal. Menschen, die genügend Geld und die Sehnsucht nach ewigem Leben haben, werden auf diese Weise in einen Kälteschlaf versetzt, konserviert für eine Zukunft, in der ihre Krankheiten und Leiden heilbar sind. Sie werden für unbestimmte Zeit aus dem Leben genommen und frisch und fit gehalten für ein neues Erwachen in einer hoffentlich besseren Welt ohne Kriege und Katastrophen. Der Tod ist nur noch etwas für die Armen: Denn natürlich können sich allein die Reichen in das geheime und schwer bewachte Forschungslabor irgendwo in den Weiten einer ehemaligen Sowjetrepublik einkaufen. Sich dort, bei schwachem Rest-Bewusstsein und implantierten Informations-Chips, auf die Ewigkeit freuen. Doch beruht unser Dasein nicht darauf, dass wir sterblich sind, dass wir dem Leben einen Sinn geben und im Hier und Jetzt glücklich sein wollen?

In seinem Roman "Null K" entführt uns Don DeLillo in die existenziellen Abgründe und philosophischen Hinterhalte einer Menschenfabrik. Der amerikanische Autor hat mit seiner Literatur stets dem Zeitgeist den Puls gefühlt, über Macht und Mord ("Sieben Sekunden") fabuliert, über Gier und Geld ("Cosmopolis") und das beschädigte Individuum in Zeiten des Terrors ("Falling Man") geschrieben. Jetzt entwirft er eine ebenso faszinierende wie erschreckende Dystopie, angesiedelt in einem Niemandsland zwischen Heute und Morgen. Wie stets macht er das auf knappem, konzentriertem Raum. Die weitschweifigen, ziegelsteindicken Romane seiner US-Kollegen sind nicht seine Sache. DeLillo liebt das atemlose Stakkato von Gedanken und Sätzen, die Andeutung, die den Leser ins Weite und Offene führt. Und das postmoderne Erzählen, das - im Fluss einer von Zeitsprüngen aufgebrochenen Handlung - immer auch gleichzeitig die Bedingungen und Möglichkeiten der Literatur mitdenkt.

Ross Lockhart, Mitte sechzig, ist Milliardär und auf der Suche nach dem ewigen Leben. Nicht nur für sich selbst, sondern auch für Artis Martineau, seine todkranke Frau. Bevor er sich in den Kälteschlaf verabschiedet, will Ross seinem Sohn aus erster Ehe, Jeffrey, die Zukunftsmaschine zeigen und ihm seine Träume vom Wieder-Erwachen in der besten aller Welten schmackhaft machen. Doch Jeffrey, er ist der Erzähler des Romans, ekelt sich vor dem wissenschaftlichen Brimborium der Menschenzüchter, er fürchtet sich vor dem gefängnisartigen Labor und findet die Bewusstseins-Manipulationen der Zukunfts-Terroristen, die sich für Auserwählte und gottesgleiche Schöpfer halten, einfach nur zum Kotzen. Jeffrey ist der typische sympathische Loser, der nichts auf die Reihe bekommt, seinen machtgeilen Vater zutiefst hasst und zugleich abgöttisch liebt. Ihre Debatten über die Mühsal des Alltags und die Perspektiven des ewigen Lebens rühren nicht nur am Kern menschlicher Existenz, sie führen uns auch die Tragik und Dramatik einer hoch explosiven und spannenden Vater-Sohn-Beziehung vor Augen. Als Jeffrey erzählt, wie elendig seine Mutter, Madeline, gestorben ist, fragt Ross: "Wo war ich, als das passierte?" "Du warst auf dem Titel von "Newsweek"", antwortet ein vom stets abwesenden Vater zeitlebens gedemütigter und genervter Sohn.

Während Vater und Sohn noch ihre Kämpfe austragen und darüber streiten, ob man nicht die Widrigkeiten des Lebens aushalten und gestalten sollte, statt auf eine ungewisse, ferne Zukunft zu hoffen, ist Artis bereits im Kälteschlaf. In einem waghalsig experimentell eingeschobenen Kapitel lauschen wir den Gedanken der untoten Frau: "Ich glaube, ich bin jemand. Was heißt das zu sein, wer ich bin. Aber bin ich, wer ich war."

(RP)
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