Wohnung hüten bei den Nachbarn Im Leben der anderen

Düsseldorf · Ferienzeit ist Haushütezeit: Nachbarn, Freunde oder Verwandte werden ins Blumengießen und Katzeversorgen eingewiesen und machen die seltsame Erfahrung, sich wie selbstverständlich durch eine fremde Identität zu bewegen.

Unsere Autorin hütet die Wohnung der Nachbarn und taucht dabei ein in das Leben der anderen.

Unsere Autorin hütet die Wohnung der Nachbarn und taucht dabei ein in das Leben der anderen.

Foto: RP/Ninh

Irgendwann hat man dann den fremden Schlüssel mit dem Filzanhänger in der Hand, schließt auf und betritt zum ersten Mal dieses verlassene Heim, in dem gerade noch Erwachsene Koffer gepackt und schnell noch mal gesaugt haben, Kinder ihre Spielkisten einräumen mussten - gründlich, auch die Dinge, die sonst immer liegenbleiben. In der Küche steht das Geschirr vom letzten Frühstück vor der Abreise auf der Spüle. Es riecht noch ein bisschen nach Kaffee und schon ein wenig nach fehlender Frischluft. Man betritt ein fremdes Nest, in dem gerade noch Leben war, Familienalltag. Der hängt noch in den Räumen.

Ferienzeit ist auch die Zeit, da Menschen auf fremde Häuser oder Wohnungen aufpassen, Hüter von Haustieren werden, die sie selbst nie angeschafft hätten, Pflanzen versorgen, deren Wasserbedarf sie erst noch kennenlernen müssen. Und all das ist keineswegs eine banale Gefälligkeit: Wer ein Heim hütet, betritt einen intimen Raum, in den er nicht gehört, ist Eindringling auf Bestellung und erledigt seine Aufgaben mit der entsprechenden Zögerlichkeit - möglichst schnell, möglichst spurlos.

Eine unvertraute Welt, die auch die eigene sein könnte

Doch zugleich ist da dieser Kitzel, für Momente in eine unbekannte Identität zu schlüpfen, sich mit seltsamer Selbstverständlichkeit durch eine unvertraute Welt zu bewegen, die auch die eigene sein könnte; Briefkästen zu leeren, Mülltonnen vor die Tür zu stellen, Gießkannen zu befüllen, Katzenfutter aus dem Kühlschrank zu nehmen und das fremde Tier ein bisschen zu kraulen. Als sei das alles vertraut.

Natürlich übernimmt man solche Aufgaben aus Nettigkeit, aus Hilfsbereitsschaft, weil man schließlich befreundet ist oder verwandt oder weil die Nachbarn immer so herzlich grüßen. Doch dann steht man plötzlich allein in einer Umgebung, die man nur flüchtig kennt, und hat die Verantwortung übernommen. Zögerlich dreht man die ersten Runden durch die entfernt bekannten Räume, die plötzlich ihr Gesicht verändern, ganz anders wirken als beim letzten Besuch. Man bekommt dann ein Gefühl wie in einer Filmkulisse, wo Menschen auch nur vorgeben, zu den Gegenständen des Alltags zu gehören. Beklemmend kann das sein.

Denn Wohnungen sind ja keineswegs nur leblose Dinglandschaften. In verlassenen Häusern zeichnen sich Lebensgewohnheiten ab, der Habitus von Menschen, wie er sich auch in Einrichtungen niederschlägt. Pierre Bourdieu hat dafür das Bewusstsein geschärft. Für den französischen Sozialphilosophen (1930-2002) sind die Dinge, mit denen wir uns umgeben, Mittel im Kampf um gesellschaftliche Positionen. Sie dienen dem "Distinktionsgewinn", dem Streben des Menschen, sich von anderen abzusetzen, den eigenen Standort im sozialen Gefüge zu markieren und gegenüber anderen zu verteidigen.

Wohnungseinrichtung als Teil der Identität

Darum kommt es auf "Die feinen Unterschiede" an, auf die Geschmacksnuancen, die Vertreter derselben sozialen Schicht sofort entschlüsseln und die daher wie eine Kennung wirken.

Wie Menschen ihre Wohnungen einrichten, ist also Teil ihrer Identität. Ob Leute sich das Edward-Hopper-Poster über den Küchentresen hängen oder den Zinnkrug in ihre Rustikal-Schrankwand stellen, ist allerdings viel weniger freie Entscheidung, als ihnen bewusst ist. Was Menschen gefällt, wie sie ihren Lebensraum gestalten, was sie sich leisten, entscheiden sie innerhalb der Grenzen ihrer sozialen Prägung. Die beginnt mit dem ersten Atemzug. Ohne ihr Zutun.

Der Habitus bestimmt, was Individuen sich zutrauen, was sie in ihrem Leben für angemessen und für so selbstverständlich halten, dass sie kaum noch darauf achten. Der Fremde aber bemerkt es, er empfängt die in Normalität aufgelösten Signale, wenn er mit der Gießkanne durch das verlassene Wohnzimmer spaziert - und kommt den Abwesenden unheimlich nahe.

Professionelle "Haushüter": Wohnungs-Sitter mit Expertise

Natürlich hat das Thriller-Potenzial. Robin Williams, dieser große, traurige Komiker, der sich im vergangenen Jahr das Leben nahm, hat mal einen gespielt, der in einem Fotoladen die Druckmaschinen bedient und eine Sehnsucht nach dem Leben einer fremden Familie entwickelt, deren Bilder durch seine Hände gehen. In "One Hour Photo" wird das Hineinversetzen in die andere, vermeintlich lebenswertere Identität zur Besessenheit. Und es genügen Bilder aus der Privatsphäre, um die Fantasie eines Einsamen zu beflügeln. So spielt der Film mit der bürgerlichen Furcht vor der Verletzung ihrer heilen Welt. Ein fieses Spiel: Der Eindringling und die ungeschützte Innenwelt der Kleinfamilie - das ist Stoff für Alpträume.

So ist es nicht jedermanns Sache, dem Nachbarn in den Ferien die eigene Wohnung anzuvertrauen. Das Zutrauen in die Unversehrtheit der Privatsphäre steht auf dem Spiel. Im virtuellen Raum scheinen sich die meisten Menschen damit abzufinden, die Hoheit über ihr Privates verloren zu haben. Im Realen aber sind sie empfindlich. Manchen ist darum eine professionelle Dienstleistung lieber, und sie buchen bei Organisationen wie "Haushüter" einen Wohnungs-Sitter mit Expertise.

Karl-Heinz Peters ist so ein Heimhüter. Seit seiner Pensionierung lebt der 63-Jährige mit seiner Frau mehrere Wochen im Jahr in fremden Häusern, geht mit fremden Hunden Gassi, schließt abends fremde Haustüren ab. "Für uns ist das eine schöne Abwechslung, man lernt neue Leute kennen, lebt mal in einer anderen Umgebung", sagt Peters.

Zurück in die Heimat

Das Unbehagen an den ersten Tagen in den privaten Räumen fremder Menschen aber kennt auch er. "Wir legen wert darauf, dass wir in den Häusern Zimmer nur für unsere Nutzung haben", sagt Peters. Die Heimhüter bringen auch ihre Verpflegung mit, versuchen ein wenig heimatliche Vertrautheit in die neue Umgebung zu importieren.

Und wie so oft bei Abenteuern ist der Lohn die Erleichterung. Peters und seine Frau genießen den Luxus in den Anwesen, die sie hüten. "Aber irgendwann ist man froh, wieder im eigenen Bett zu liegen", sagt er. Im trauten Heim gibt es keine Kulissengefühle, keine Identitäts-Irritationen. Der Haushüter ist wieder Teil der Normalität, die er geschaffen hat, die ihm selbstverständlich erscheint. Wohlig fühlt sich das an, dieses Unhinterfragtsein. Zurück in der Heimat.

Und bei den Urlaubern steht eine Karte auf dem Küchentisch: "Schön, dass Ihr wieder da seid!"

(RP)
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