Leben im Internet Im Netz des Konsums

Im Internet wird jeder Mensch zum Konsumenten. Die Konzerne kennen seine Vorlieben und sehen sein Verhalten voraus. Immer wieder zeigt sich: Für die Intimsphäre gibt es keine Firewall.

Leben im Internet: Im Netz des Konsums
Foto: dpa, Caroline Seidel

In den USA plant der Internetversandhändler Amazon, Kunden künftig Produkte zu schicken, die sie zwar nicht bestellt haben, die sie aber sehr wahrscheinlich haben möchten. Die Informationen über die Wünsche und Vorlieben der Menschen liefern Algorithmen: Der Konzern wertet Suchfragen seiner Kunden aus, gleicht sie mit früheren Bestellungen und dem Klickverhalten auf der Homepage ab. Das Verfahren ist totsicher, Zahlen lügen nicht, Gegenwart wird kalkulierbar. Und nicht nur Amazon macht das so.

Für Aufsehen sorgte eine Aktion des amerikanischen Discounters Target. Er schickte Gutscheine für Schwangerschaftsprodukte an eine Familie mit junger Tochter. Die Eltern beschwerten sich, sie fragten, was das denn solle. Die Antwort war, das Kaufverhalten der jungen Frau habe sich in einer für Schwangere typischen Weise geändert. Das kann nicht sein, meinten die Eltern, aber sie stellten die Tochter dann doch zur Rede. Und tatsächlich: Sie erwartete ein Kind.

Alles ist kalkulierbar geworden

Die beiden Fälle zeigen, dass die Folgen der Digitalisierung des Alltags weiter reichen, als viele sich vorstellen. Es gibt keine Firewall, die unsere Privatsphäre schützen würde, die Eingriffe bedrohen bisweilen gar die Intimsphäre. Der frühere Google-Chef Eric Schmidt warnte vor ein paar Jahren: "Wenn Sie planen, etwas zu tun, das geheim bleiben soll, sollten Sie darüber nachdenken, ob Sie es wirklich tun." Damals wurde die Aussage belächelt. Heute weiß man, dass es tatsächlich Leute gibt, die Flöhe husten hören können, bevor sie Schnupfen haben.

Wer sich auf dem Buchmarkt umsieht, vor allem die Neuerscheinungen aus den USA betrachtet, wird merken, wie stark dieses Thema die Autoren umtreibt. Ein heftig diskutierter Titel, der bald verfilmt werden soll und nun auch in unseren Bestsellerlisten angekommen ist, lautet "Flash Boys. Revolte an der Wall Street".

Millisekunden entscheiden

Michael Lewis erzählt in dem Sachbuch die ungeheuere, aber wahre Geschichte des Hochfrequenzhandels. Das Geschäftsmodell basiert auf Hochtechnologie. Mehrere Firmen haben sich zusammengeschlossen und Glasfaserkabel angezapft, über die Händler an Börsen ihre Trades abwickeln. Sie platzierten Tausende Computer an Dutzenden Börsen und gewannen durch diese buchstäbliche Nähe einen Informationsvorsprung im Millisekundenbereich. Das genügt indes, um die Computer Kaufinteressen erkunden und die Preise hochtreiben zu lassen. So kann der Aktienmarkt zugunsten eines Auftraggebers manipuliert werden.

Auch hier wird künftiges Interesse ausspioniert, ein Verhalten abgefragt, das sich erst anbahnt. Auf die potenzielle Wirklichkeit wird reagiert, sie wird umprogrammiert und neu designt. In ihrer Besprechung der "Flash Boys" rechnete die FAZ vor, dass ein Informationsvorsprung von einer Millisekunde zweistellige Milliardensummen bedeuten könne. Und wer immer noch denkt, das seien Episoden aus unveröffentlichten Entwürfen zu Aldous Huxleys "Schöne Neue Welt", sollte wissen, dass offenbar 40 Prozent der Geschäfte, die auf den elektronischen Handelsplattformen der Deutschen Börse getätigt werden, auf das Konto der Blitzhändler gehen.

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Foto: dpa, hka sab dbo

Alles und jeder wird berechnet

Das Angebot ist inzwischen schneller als die Nachfrage, die Grundlagen der Marktwirtschaft bekommen ein Update. Die Gesellschaft muss darauf reagieren, und sie tut es auch: Am Tag nach Erscheinen von Michael Lewis? Buch "Flash Boys" kündigten FBI und US-Justizministerium an, sie würden Ermittlungen gegen den Hochfrequenzhandel an den Börsen einleiten. Die Frage ist nur, was das bringt. Denn sobald die Möglichkeiten da sind, alles zu berechnen, wird alles berechnet. Und wenn es der eine nicht tut, macht es der andere.

Vom Silicon Valley geht ein Kulturwandel aus, und der bewirkt, dass das Individuum nur mehr Konsument ist. Der amerikanische Denker Jaron Lanier, der in diesem Jahr mit dem Friedenspreis des Buchhandels ausgezeichnet wird, hat ein kluges und sehr erhellendes Buch über dieses Problem geschrieben: "Wem gehört die Zukunft?" Sein Untertitel lautet: "Du bist nicht der Kunde der Internetkonzerne. Du bist ihr Produkt."

Lanier spricht von "kybernetischem Totalitarismus", der das Individuum zugunsten des Kollektivs marginalisiere. Der "digitale Maoismus" der Konzerne verspreche allen Freiheit, aber weil er ausschließlich von ökonomischen Interessen getrieben sei, packe er die Menschen in Datensätze, die er beobachte, kontrolliere und ausbeute. Mit uns werde auf sinistre Weise Geld verdient. 2013 sei ein Schlüsseljahr gewesen, schreibt Lanier weiter, denn seither wisse man, dass sich die westliche Welt nicht vor der Bedrohung durch Staaten fürchten müsse, sondern durch Wirtschaftsunternehmen.

Realistische Beschreibungen sind bitter wie Satire

Auch Roman-Autoren reagieren auf die geänderten Lebensbedingungen, die den Alltag in einen Strom aus Daten verwandeln, aus rasenden Zahlenkolonnen. Der frühere Chefentwickler von Google, Shumeet Baluja, beschreibt in seinem bei Suhrkamp erschienenen Roman "Silicon Jungle" den fiktiven Suchkonzern Ubatoo. Dessen Mitarbeiter schreiben Programme, die die persönlichen Daten von Internetnutzern in E-Mails und Suchanfragen ausspähen sollen. Sie schicken dann Werbeanzeigen von Autokonzernen an diejenigen, die sich mit dem Gedanken tragen, einen neuen Wagen anzuschaffen.

Der Roman ist nicht als Satire ausgewiesen, und wie das eingangs erwähnte Beispiel von Amazon zeigt, überhöht Baluja ja auch nicht, er beschreibt die Wirklichkeit. Mehr muss ein Text nicht leisten, um bitter zu schmecken wie eine Satire.

"Privatheit heißt Diebstahl"

Der amerikanische Autor Dave Eggers erzählt in seinem Roman "Der Circle", der Mitte August auf Deutsch erscheint, von einer jungen Berufs-Anfängerin, die einen Job beim Unternehmen "Circle" ergattert hat. Die Handlung spielt in der nahen Zukunft, und "Circle" hat Apple, Google und Facebook abgelöst. Nun soll die Frau das neueste Produkt lancieren helfen, es heißt "SeaChange": eine Kamera für die Hemdtasche, die alles, was geschieht, direkt ins Netz überträgt.

Eggers' Heldin macht mit, weil sie in dieser Firma etwas hat, an das sie glauben kann. Aber ihr Privatleben verbringt sie lieber ungestört, sie postet nichts, macht keine Fotos, stellt nichts online. Eben das wird zum Problem, denn die Konzern-Oberen führen einen sogenannten "Participation Rank": Diejenigen steigen auf, die möglichst viel von sich preisgeben; die anderen werden verwarnt - denn den Alltag nicht zu teilen, sei egoistisch. Das Motto des Konzerns lautet: "Geheimnisse sind Lügen. Teilen heißt kümmern. Privatheit ist Diebstahl."

Der Kampf um Privatsphäre ist hoffnungslos

Eggers führt vor, wie sich die kulturellen Errungenschaften der vergangenen Jahrhunderte umkehren, wenn man sich von moralischer Trägheit lähmen lässt. Der Kampf um Privatsphäre ist unter den jetzigen Bedingungen hoffnungslos, schreiben Eric Schmidt und Jared Cohen in dem Buch "Die Vernetzung der Welt". Sie prognostizieren, dass Staaten Bereiche schaffen werden, die vom Internet getrennt sind oder Alternativen zum Web schaffen. Und sie schlagen vor, bei Bewerbungen keine Daten auszuwerten, die vor dem 18. Geburtstag des Bewerbers gesammelt wurden.

Wenn Algorithmen arbeiten, muss man sich fragen, für wen sie arbeiten. "Ich will Konsumenten, die sich wie Bürger verhalten, wenn sie Daten preisgeben müssen", schreibt Evgeny Morozov in seinem Buch "Smarte neue Welt. Digitale Technik und die Freiheit des Menschen". Zu bedenken ist, ob der Schutz der Privatsphäre rechtlich besser abgesichert werden sollte. Muss die Unterscheidung zwischen traditionellen Freiheitsrechten wie in Artikel 12 der Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen und dem Recht auf Schutz der Intimsphäre nicht feiner definiert werden? Gegen Betrug und Gewalt gibt es Gesetze, warum nicht gegen Verletzungen durch moderne Technik?

Die Macht liegt im richtigen Algorithmus

Die Digitalisierung ermöglicht die radikale Demokratisierung der Bildung, transparente Politik und ökonomische Beschleunigung. Aber wie bei allem, das gut ist, gibt es auch Gefahren, und die größte Gefahr erwächst aus der Binsenweisheit, dass alles nur dann besser wird, wenn sich damit Geld verdienen lässt. Unternehmen definierten für uns, wie die Zukunft technologisch, kulturell und intellektuell aussehen soll, meint Evgeny Morozov. Und es sei dabei stets eine strukturelle Logik im Spiel, die etwas mit Kapitalismus zu tun habe und mit Konsumverhalten. "Was gerade passiert, ist ein Remix aus Goldrausch und Beginn des Atomzeitalters", schreibt Johannes Boie in der "Süddeutschen Zeitung": "Der richtige Algorithmus macht reich wie ein Goldnugget und ist mächtig wie eine Atombombe."

Jedem muss klar sein, dass er manipulierbar ist. Unsere Entscheidungen würden durch geschickte Folgen uns genehmer Nachrichten so manipuliert, dass unser Wille nur der Wille unserer Manipulatoren sei, schreibt Lanier.

Wer nicht gegensteuere, werde zum Zombie.

(hol)
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