Im Sturm der Zeiten
Düsseldorf · Noch spielt das Streichquartett. Wie auf der Titanic. Doch ein Sturm wird kommen, die feine Gesellschaft verschlingen und mit ihr eine Epoche. Im Düsseldorfer Schauspielhaus setzt Volker Hesse die imposante Bühnenmechanik des Großen Hauses in Gang, um Shakespeares "Sturm" zu entfesseln. Gewaltig heben und senken sich die Bühnenebenen, geben den Blick frei auf das Hebelwerk der Illusionsmaschine. Die Bühne ist die Welt bei Shakespeare. Und bei Hesse ist sie eine wuchtige Mechanik, in die der Mensch geworfen ist. Hilflos, verwirrt, von bösen Zaubern drangsaliert werden die Schiffsbrüchigen bald über diese Insel irren, die keine Oase ist, kein Renaissance-Utopia, sondern ein mächtiger Apparat, der niemals stillsteht.
In seinem mutmaßlich letzten Drama "Der Sturm" versetzt Shakespeare sein Publikum auf eine Insel, auf der ein gestürzter Herrscher mit seiner Tochter haust. Prospero ist ein Zauberer, und als die Feinde, die ihm einst die Macht über Mailand nahmen, an seinem Exil vorbeisegeln, entfesselt er den Sturm, bringt die Verräter in seine Gewalt. Nun könnte ein blutiges Rachespiel beginnen, doch Shakespeares Prospero ist kein Machiavelli, kein Machtmensch, kein Stratege. So verlor er schon seine Herrschaft in Mailand; so geht er nun in seinem neuen Reich auf die Feinde zu, verzeiht ihnen, gibt ihnen gar seine Tochter. Doch das ist kein Hochgesang auf den Humanismus. Shakespeare ist nicht Lessing. Bei ihm ist das Theater nicht Belehranstalt, sondern die grausame, großartige Welt im Kleinen. Und so bleibt auch die humanistische Utopie nur Spiel. Eine Möglichkeit. Eine Episode.
Am Ende zerbricht Prospero seinen Zauberstab, er gibt die Macht zurück ans Publikum, verlässt das Reich der Illusionen. Sein Schicksal bleibt ungewiss. Die Intrigen, Machtkämpfe, Gewalttätigkeiten werden weitergehen - auf der Bühne wie im Leben. Und der unbeholfene Mensch mit all seinen Begierden und Fehlbarkeiten wird weiter durch die Zeiten irren. Stürme werden kommen und vergehen.
Volker Hesse, der bereits in den 70er Jahren unter dem damaligen und jetzt wieder amtierenden Intendanten Günther Beelitz am Düsseldorfer Schauspielhaus gearbeitet hat, inszeniert mit seinem "Sturm" ein karges, unverkleidetes Welttheater, das doch nahe an Elisabethanischen Vorstellungen liegt. Zeigt er die Welt doch als Machtapparat und den Menschen ausgeliefert an seine Begierden und die Kräfte der Natur. Die Renaissance hatte ihren Zeitgenossen manche Erkenntnis von der Astronomie bis zur Anatomie gebracht, ihnen aber Illusionen, naiven Halt genommen. Das ist die Parallele zur Gegenwart. Und so siedelt Hesse seine Insel auch an keinem Ort, in keiner Epoche an. Es geht um die zeitlose Ohnmacht und um die Verführbarkeit des Menschen.
Natürlich hat das auch komische Seiten, die Hesse in seiner klug auf zwei Stunden verdichteten Inszenierung auskostet. Etwa, indem er Andreas Schmid und Heisam Abbas als Hofnarr Trinculo und Kammerdiener Stephano zu einem drolligen Matrosenpaar macht. Naiv träumen die beiden von Herrschaft über die Insel. Machthunger ist keine Frage des Standes. Am Ende stehen sie ramponiert in Prinzessinnenkleidern auf der Bühne, Pappkronen auf den schiefen Fratzen, Zerrbilder ihrer Träume.
Dazu macht Hesse allerlei Anleihen beim Film. Sein Inseleinwohner Caliban ist ein Wiedergänger des garstigen Gollum aus Tolkiens "Herr der Ringe". Karin Pfammmatter schlüpft mit unglaublicher Geschmeidigkeit in die Haut des wehleidigen, gierigen Geschöpfes und macht Caliban mit ihrer furiosen Leistung zu einer zentralen Figur der Inszenierung. Luftgeist Ariel ist bei Hesse kein singender, flirrender Helfer, sondern ein sprachloser Dämon. Urs Peter Halter gibt ihn mal nervös witternd wie ein Reh, mal moralisch unbeteiligt wie der böse Clown in Christopher Nolans "Batman", unsichtbar wird er im schwarzen Ganzkörperanzug wie aus dem Marvel-Heldenkosmos.
So lädt Hesse Nebenfiguren mit den Bildern und Narrativen Hollywoods auf. Dagegen bleiben Figuren wie das Liebespaar Miranda und Ferdinand blass. Klara Deutschmann darf Prosperos Tochter nur als liebes Kind spielen, ohne eine Spur der Versehrung nach Jahren in der Einsamkeit. Und Moritz von Treuenfels rackert sich zwar mächtig ab, um Prosperos Gefallen und die Zuneigung seiner Tochter zu finden, doch als das geschafft ist, stehen die beiden brav nebeneinander, wie Plastikfiguren auf der Brauttorte. Mit Glück scheint Hesse wenig anfangen zu können. Ihn reizt die gequälte Kreatur. Und die Lächerlichkeit des Untertanen, der hoch hinaus will.
Der Souverän auf der Insel aber ist Ernst Stötzner als Prospero. Es ist ein Genuss zu erleben, wie er Shakespeare spricht, wie natürlich, hintersinnig, voll feiner Ironie. Stötzner gibt den gestürzten Herzog weder als gemarterten Racheengel noch als großen Magier. Wenn er zaubert, tut er das mit köstlicher Lakonie, wedelt ein wenig mit den Händen, überlässt den Hokuspokus Ariel. Barfuß, eine alte Decke als ranzigen Herrschermantel um die Schultern, ist dieser Prospero mehr Yogalehrer denn Zauberer, mehr Skeptiker denn Alchemist. Stötzner legt es nicht darauf an, der gefeierte Gast-Star des Abends zu werden, sondern fügt sich ins Ensemble. Doch wirkt sein Prospero auch ein wenig unentschieden, eine Spur zu lässig, zu abgeklärt, zu misstrauisch gegenüber der eigenen Kunst.
Bei aller Düsternis und komisch verpackten Erbarmungslosigkeit dieses Stückes ist Hesse ein kurzweiliger "Sturm" gelungen. Einer, der auf die Kunst der Schauspieler vertraut. Wie schon Shakespeare.
Dafür gab es großen Applaus.