Frankfurt Internetkritiker erhält Friedenspreis

Frankfurt · Der US-Amerikaner Jaron Lanier gilt als der Begründer der virtuellen Realität.

Jaron Lanier war noch ein Teenager, als er zu dem wurde, was man einen digitalen Idealisten nennen könnte. Jemand, der sehr früh die Riesenchancen neuer Kommunikationswege erkannte und der unverdrossen daran glaubte, dass sie dem Menschen und seiner Freiheit dienen werden. Lanier musste dabei an afroamerikanische Sklaven denken, denen es lange Zeit verboten war, Trommeln zu spielen. Nur weil die Sklavenbesitzer fürchteten, die Trommeln seien Mittel der Verständigung - und vor allem zum Aufruhr. Vielleicht trägt der mittlerweile 54-jährige Jaron Lanier als Zeichen seiner Solidarität bis heute Dreadlocks.

Es ist nicht allein dieser Internet-Idealismus der frühen und dessen Erschütterung der späten Jahre, die Jaron Lanier jetzt zu dem wohl ungewöhnlichsten Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels gemacht haben. Der Amerikaner ist ein Symbol und Zeuge der Zeitgeschichte, eine Person, die das zentrale Thema der Menschheit erlebt, vorangetrieben und erlitten hat. Lanier, das digitale Wunderkind, der unter anderem Datenhelm und Datenhandschuh mitentwickelte, mit denen man auf unendliche Reise gehen konnte. "Virtual Reality" nannte Lanier das und schuf damit eine Begrifflichkeit, in der sich sein utopischer Glaube spiegelt. Jaron Lanier war damals noch die Sirene, die die Menschheit in dieses neue Refugium zu locken suchte. Aus der Sirene ist ein Kassandra-Rufer geworden. Lanier ist Heilsbringer und Ketzer in einer Person.

Diese Wandlung dokumentiert Laniers große Desillusionierung. Er musste erleben, wie aus der grenzenlosen Kommunikationsfreiheit für alle ein fast unbegrenztes Geschäft für wenige wurde. Und wie die Menschheit statt der erhofften Freiheit in existentielle Abhängigkeit zum neuen Medium geriet. "Du bist nicht der Kunde der Internetkonzerne. Du bist ihr Produkt", schreibt Lanier in seinem jüngsten Buch "Wem gehört die Zukunft?" Konkreter gefragt: Wie kann man verhindern, dass das Internet zu einem Instrument der Herrschaft und der Ausbeutung verkommt?

Lanier, in New York geboren und seit 2004 in Berkeley Computerwissenschaften lehrend, ist Mathematiker und Musiker, Komponist und Autor. Er sieht aus wie einer, der aus der Zeit gefallen zu sein scheint - und vielleicht ist er das auch.

Der altehrwürdige Börsenverein des Deutschen Buchhandels hat mit seinem neuen Friedenspreisträger die bisher mutigste Wahl getroffen. Zwischen all den Heuss und Tillichs, den Weizsäckers und Kopelews und Friedländers wirkt Lanier wie ein Außerirdischer. Doch er ist von dieser Welt und sein Leben erzählt das Drama dieser Welt - und anderer Welten. Vielleicht wird er den mit 25 000 Euro dotierten Friedenspreis Ende Oktober in der Paulskirche zu Frankfurt in seinem XXL-T-Shirt über seinen mächtigen Leib entgegennehmen. Und vielleicht spielt er dann auch wunderschön seine Khene, eine südostasiatische Mundorgel, die er zu Vorträgen meist mit sich führt. Auch sie ein Mittel der Kommunikation.

(RP)
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