Interview: Judith Hermann "Jeder Schriftsteller hat etwas Obsessives"

Berlin · 16 Jahre nach ihrem großen Debüt hat Judith Hermann ihren ersten Roman geschrieben - ein Buch über Liebe und Stalking.

Judith Hermann ist ein Phänomen: Als sogenanntes "Fräulein- wunder" der deutschen Literatur hatte sie 1998 ausgerechnet mit Erzählungen einen der großen deutschen Bucherfolge: "Sommerhaus, später" wurde in 29 Sprachen übersetzt und hierzulande über 500 000 Mal verkauft. Dieser Erfolg blieb ihr auch bei den nachfolgenden Erzählungen treu, die ihr den Ruf einer deutschen Alice Munro einbrachten. Heute erscheint das neue Buch der 44-jährigen Berlinerin: "Aller Liebe Anfang" ist ihr erster Roman, der von Liebe und Verrat erzählt, von Stalking und der Sehnsucht nach Aufbruch.

War das für Sie einfach ein Entschluss, nach vielen Erzählungen nun auch die größere Prosaform zu wählen; oder entwickelte sich das erst beim Schreiben?

Hermann Es ist beim Schreiben entstanden. Ich habe versucht, den Stoff erst in eine Erzählung zu fassen. Doch das funktionierte nicht, ich hatte einfach zu viel zu erzählen. In einer meiner frühen Fassungen nahm allein die Eskalation am Ende einen Großteil der Erzählung ein. Ich konnte nicht alle Assoziationsräume öffnen, die ich doch gebraucht habe. Schließlich habe ich mir gesagt: Wann, wenn nicht jetzt, sollst du in die lange Erzählstrecke gehen? Als ich dann über 20 bis 25 Seiten hinauskam, hat es sich erst einmal unsicher angefühlt. Aber irgendwann waren dann alle Figuren versammelt und brauchten ihren Platz.

Dennoch gibt es frühere Erzählungen von Ihnen, die auch komplexe Sachverhalte darstellen. Hat es vielleicht gar nicht am Stoff gelegen, sondern an einer neuen Schreibhaltung und an einem neuen Erzählton.

Hermann Schwer zu sagen. Aber ich denke schon, dass ich wieder zu den Erzählungen zurückgehen werde. Mir entspricht es eher, einen Moment oder etwas Kleines in einem Text aufzuheben. In dieser Geschichte gab es zu viele kleine Momente und Szenen, auf die ich nicht verzichten wollte. Es ging nicht, vieles in einem Satz zu komprimieren.

Haben Sie denn an dem Roman länger arbeiten müssen als an früheren Erzählungen?

Hermann Letztlich habe ich an diesem Buch genauso lange gearbeitet wie an den früheren Büchern - auch diesmal waren es erstaunlicherweise wieder exakt fünf Jahre. Dazu gehören eineinhalb Jahre Lesen und ein halbes Jahr Rückzug. Die meiste Zeit aber vergeht mit Nachdenken, nicht mit Schreiben. Und diese Phase ist das Anstrengendste. Der Prozess, bis man sich traut, wirklich mit dem Buch anzufangen, ist ganz schwer. Ich habe dann ein Jahr gebraucht, um überhaupt in den Text hineinzukommen. Und als ich dann im Text war, haben ich noch ein weiteres Jahr gebraucht. All die Variationen zum Text und das Nachdenken darüber, was ich eigentlich mit dem Text machen möchte, gehören eben auch dazu.

Hat sich Ihr Erzählen verändert?

Hermann Ich glaube schon, aber ich kann es nicht sagen, weil ich zu nah an dem Text dran bin. Man kann das einfach schlecht beurteilen, so, wie man auch sein eigenes Kind nicht richtig sehen kann. Das Einzige, das ich kann, ist zu sagen, dass der Text nach meiner Maßgabe nun fertig ist. Aber wahrscheinlich ist es schon so, dass ich durch den größeren Erzählraum viel entspannter erzählen und der Dynamik der Geschichte folgen konnte.

Die Literaturnobelpreisträgerin Alice Munro gehört zu Ihren großen Vorbildern. Sie hat neben den vielen Erzählungen nur einen Roman geschrieben.

Hermann Daran habe ich überhaupt nicht gedacht. Das ist beim Schreiben nur hinderlich. Es war ohnehin schon ein schweres, strapaziöses Buch.

Gab es für Sie einen konkreten Anlass, über die im Roman beschriebene Bedrohungssituation durch einen Stalker zu schreiben?

Hermann Man kann es eine Stalking-Geschichte nennen. Aber ich wollte es nicht darauf beschränkt haben und darauf festlegen. Ich wollte erst einmal schauen, welche Beziehung sich entwickeln könnte zwischen Stella und dem fremden Mann vor ihrem Haus. Erst im Laufe des Schreibens habe ich über das Thema recherchiert. So musste ich lernen, dass es in Berlin nicht nur eine Anlaufstelle für Stalking-Opfer gibt, sondern auch eine für Stalker selbst, für Menschen also, die andere obsessiv bedrängen. Und diese Einrichtung wird eindeutig mehr aufgesucht.

Wobei Ihr Stalker mit seinen zum Teil poetischen Nachrichten auf kleinen Zetteln durchaus literarische Fähigkeiten besitzt.

Hermann Das finde ich auch.

Ist dieser fremde Mann auch ein Schriftsteller, der seine Figuren verfolgt?

Hermann Klar, ich tu das ja auch mit meinen eigenen Figuren; und man tut das durchaus obsessiv. Ich bin versessen darauf. Das hat natürlich etwas Merkwürdiges. Jeder Schriftsteller hat eine Neigung zum Obsessiven.

Ihr Roman liest sich manchmal wie ein Märchen, und zwischendurch ist man sich gar nicht sicher, ob alles auch wirklich geschieht.

Hermann Ich selbst habe am Ende gedacht, vielleicht gibt es den fremden Mann ja gar nicht. Vielleicht gehört er ja nur zur Projektion von Stella mit ihrer Sehnsucht nach einer Veränderung im Leben. Das kann man durchaus so lesen. Diese Unschärfe wollte ich zwischendurch schon haben.

Stella bewohnt mit Mann und Kind ein Eigenheim in einer Siedlung am Rande der Stadt. Das hört sich ein bisschen nach Endstation an.

Hermann Darum gibt es eine Sehnsucht nach dem Provisorischen, die einem plötzlich abhandengekommen ist und die man gerne wieder zurückhaben will. Viele meine Figuren leiden unter der Melancholie der Ankunft. Das ist eine emotionale Grundhaltung, die vielleicht meine ist.

(RP)
Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort