Düsseldorf Jo Nesbø und seine Bestseller in Serie

Düsseldorf · Der norwegische Erfolgsautor holt seinen Ermittler Harry Hole zurück und landet mit "Koma" auf Anhieb wieder vorne in den Verkaufslisten. Dabei schreibt Jo Nesbø Krimis, die wenig mit skandinavischer Spannungsliteratur zu tun haben.

Nach etwa einem Drittel des Buches erlebt der Leser einen schmerzhaften Aha-Moment. "Was bin ich doch für ein Trottel!", so die Selbsterkenntnis. Denn erst da wird einem bewusst, dass Jo Nesbø einen seit 194 Seiten an der Nase herumführt. Dass man willig den ersten Köder geschluckt hat und brav der Fährte gefolgt ist, die der norwegische Krimi-Star für seine Leser ausgelegt hat. Aber es ist alles anders, als es einen der 53-Jährige glauben lassen will. Nesbø, du gerissener Hund!

Gerissenheit ist nur eines von vielen Talenten des erfolgreichsten zeitgenössischen Autors Norwegens. Jo Nesbø arbeitete schon als Börsenmakler, war Mitglied einer der besten Popbands des Landes, nun schreibt er Krimis. "Koma", das sofort auf Platz zwei der Bestsellerlisten schoss und sich seitdem in den Top-Fünf hält, ist sein zehnter Harry-Hole-Roman. Und womöglich ist das Talent, das diesen genialen Ermittler schuf, die wertvollste unter seinen Begabungen – auch finanziell. Mehr als 19 Millionen Bücher hat das Multitalent verkauft: Der größte Anteil – neben Kinderbüchern und dem verfilmten Thriller "Headhunter" – fällt dabei auf Harry Hole. Nesbø räumt inzwischen ein, dass er mit Harry Hole nicht nur den Musikgeschmack (vor allem US-Indie-Rock) teilt: "Wir sind beide romantisch, melancholisch und leben einen Mix aus Chaos und Disziplin", sagt er. "Anfangs habe ich gedacht, er und ich wären vollkommen verschieden." Inzwischen wisse er, dass das nicht stimme. "Er ist zwar nicht mein Alter Ego, trotzdem ist viel von mir in Harry eingeflossen. Sagen wir mal 70 Prozent." Bleibt für Nesbø zu hoffen, dass Holes Alkoholsucht, seine Beziehungsunfähigkeit und sein Drang, sich als Einzelgänger in tödliche Gefahr zu begeben, den anderen 30 Prozent entsprechen und der Phantasie entsprungen sind.

Hole kehrt in seinem zehnten Fall zurück, nachdem er sich im vorangegangenen Buch auf eine Art Privatfeldzug gegen die Drogenbosse der Stadt begeben hat, um seinen der Sucht verfallenen Ziehsohn Oleg zu retten. Die Schatten dieser Vergangenheit kommen in "Koma" zurück. Die Osloer Polizei sucht einen Mörder, der Polizisten an ehemaligen Tatorten ermordet. Die Sonderermittlungsgruppe, deren Mitglieder von Hole ausgebildet wurden, stellt fest, dass alle Kollegen schlampig ermittelt haben. Der Druck der Öffentlichkeit ist groß: Der Polizeipräsident will Ergebnisse, die Presse macht Schlagzeilen mit dem "Schlächter", dann sucht sich der Mörder ein Opfer in der Ermittlungsgruppe.

Die Nesbø-Krimis sind erfolgreich und starten mindestens mit einer Auflage von 400 000 Exemplaren. Geschichten über Mord und Totschlag aus Skandinavien funktionieren auf dem Markt, Bücher verkaufen sich quasi wie von selbst, wenn nur Autorennamen mit durchgestrichenem "O" oder "A" mit einem Kringel auf dem Titel prangen. Dafür stehen Namen wie Håkan Nesser, Åke Edwardson, Åsa Larsson, Jussi Adler-Olsen, Henning Mankell oder Leena Lehtolainen. Angeblich liegt ihr Erfolg im Bullerbü-Gen, das Astrid Lindgren Generationen von Lesern eingeimpft hat. Skandinavien hat das friedfertige Image von endlosen Wäldern, zahlreichen Seen und roten Häuschen – hinter denen plötzlich eine Leiche liegt. In den meisten Krimis kämpfen kauzige Kommissare für die Idylle, die wir im hohen Norden sehen wollen, und retten die Welt vor dem Bösen.

Jo Nesbø hingegen bricht mit diesem Erzählmodell. Bei ihm ist Oslo ein Moloch, die Straßen sind voll von Drogen, Gewalt und Kriminalität. Teile der Polizei lassen sich korrumpieren, ebenso Vertreter der Politik. Seine Krimis sind atemlos und phasenweise von einer Brutalität, die an amerikanische Thriller erinnert. Nesbøs Botschaft: Die Welt ist schonungslos, sowohl zu den Guten als auch zu den Bösen. Harry Hole trägt seine Narben (ein fehlender Mittelfinger, eine Narbe vom Mund bis zum Ohr), die er in diesem Kampf erlitten hat, wie einen Orden. Aber er siegt immer nur ein bisschen, nie auf ganzer Linie.

Auch "Koma" rüttelt wieder an dem heilen Bild, das Norwegen dank seines Ölreichtums in die Welt transportiert und das erst seit dem Utøya-Massaker gelitten hat. Am Ende lässt der Autor den Leser wieder in die Irre laufen, das Falsche glauben. Aber so ist er, dieser Nesbø – einfach gerissen. Und gut.

(RP)
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