Joseph Haydn im XXL-Format

Paul McCreesh dirigiert eine englischsprachige Aufnahme der "Jahreszeiten".

Raus aus der Verniedlichungs-Ecke! Immer noch, mehr als zweihundert Jahre nach seinem Tod, gilt er als der liebe, nette Onkel gehobener Unterhaltungs-Musik. Ist er aber nicht.

Wenn es noch einen eindringlichen Beleg braucht, um Joseph Haydn als einen genialen Komponisten zu rehabilitieren, voller Humor, Tiefe, naturalistischer Schärfe, dann greife man zur neuen Einspielung seines Oratoriums "Die Jahreszeiten" unter Paul McCreesh. Der stülpt vieles um, was heute, selbst in der Gemeinde der historisch Musizierenden, Usus ist. Das fängt schon mit der Besetzung an: Denn hier wird erstmalig jene Groß-Besetzung aufgeboten, die Haydn ursprünglich vorschwebte: 60 Streicher, acht Hörner, ein Chor mit 70 Sängern. Haydn im XXL-Format.

Schon mit dem ersten Ton der Ouvertüre, einem Eröffnungsknall, wird alle Gemütlichkeit davongejagt. Das klingt radikal - und das soll es auch sein: So haben wir Haydn noch nicht gehört. Die nächste Überraschung wartet, wenn der erste Ton gesungen wird: in englischer Sprache! Das originale, deutsche Libretto stammt vom Baron Gottfried van Swieten. Der hatte Ende des 18. Jahrhundert das englische Versepos "The Seasons" von James Thomson bearbeitet, übersetzt und in eine Libretto-Vorlage gegossen.

Jetzt behauptet McCreesh: Damals, beim Erstdruck 1802, wurden die "Jahreszeiten" als erstes Oratorium überhaupt in zwei Sprachen zugleich veröffentlicht. Es gab eine deutsch-französische und eine deutsch-englische Version. Außerdem konnte van Swieten nur mäßig englisch, daher sei seine Fassung sprachlich eher unbeholfen. Aus diesem Grund hat Paul McCreesh seine eigene englische, an den sprachlichen Stil des 18. Jahrhunderts angelehnte Fassung erstellt. Damit klingt diese neue Produktion nun etwas händelesk. Der Ackersmann wird zum "Countryman", aus: "Seht, wie der Hund im Grase streift!" wird: "There prowls a dog deep in the grass". Das ist gewöhnungsbedürftig.

Carolyn Sampson, Jeremy Ovenden und Andrew Foster-Williams bilden ein homogenes Ensemble, das National Forum of Music Choir und das Gabrieli Consort singen mit Hingabe und - gemessen an ihrer Größe - transparent. Musikalisch ist das Ergebnis revolutionär, manchmal ungeheuerlich - für Neueinsteiger allerdings nicht unbedingt erste Wahl. Als Alternative zu René Jacobs & Co jedoch unentbehrlich.

Haydn, "Die Jahreszeiten"; Sampson, Ovenden, Foster-Williams, Gabrieli Consort & Players, National Forum of Music Choir, Wroclaw Baroque Orchestra, McCreesh; Signum 2 CD SIGCD480

(RP)
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