Karls Kalotte

Die Krone war auf Reisen. So ist in der Aachener Domschatzkammer die geöffnete Karlsbüste zu erleben. Und der Blick in den Schädel eines großen Europäers wird möglich.

Nur noch an diesem Wochenende können wir ein seltenes Schauspiel erleben. In der Aachener Domschatzkammer steht das kostbare Büstenreliquiar Karls des Großen mit geöffnetem Haupt. Für eine kurze Zeit ist die aus Silber getriebene Kopfplatte hochgeklappt. Darüber wurde ein Spiegel angebracht, der den Blick in Karls Kopf ermöglicht. Kalotte nennt man das gewölbte Schädeldach, das fein getönte Linien und Marmorierungen aufweist. Beige, grau, zartrot. Natürlich ist es nicht aus Stein, sondern aus Knochen. Uralt. Eine gläserne Umhüllung haben Konservatoren zum Schutz angebracht.

Wenn alles so stimmt, wie es Wissenschaftler, Biografen und Historiker ermittelt haben, ist diese Schädeldecke 1268 Jahre alt. Denn mit dem Jahr 748 wird heute die Geburt des Mannes angegeben, der als Kaiser Karl der Große und als erster Herrscher des christlichen Mittelalters das Neue Rom errichten wollte. Karl hatte das mit heißen Quellen gesegnete Aachen ab dem 9. Jahrhundert nicht nur zu seiner Residenzstadt, sondern auch zu einem Mittelpunkt seines Reiches gemacht und im Talkessel von Eifel und Ardennen eine repräsentative Pfalz errichtet. Der Aachener Dom, Karls Marienkirche, in der von 936 bis 1531 die römisch-deutschen Könige gekrönt wurden, ist vollständig erhalten. Der dazugehörende Kirchenschatz gilt als einer der bedeutendsten nördlich der Alpen. Er steht zusammen mit dem Dom seit 1978 auf der Weltkulturerbe-Liste der Unesco.

Manche dieser Schätze gehen auf königliche Stiftungen zurück, andere wurden für die Zeremonien der Krönung angefertigt. Karl IV. war zeitlebens ein großer Verehrer Karls des Großen, ihm sind wichtige und große gotische Reliquiare zu verdanken: die Karlsbüste und die Reliquien in Kapellenform. Gemeinsam mit dem Reliquiar des Schienbeines und des Armes versammeln sie sich in der Aachener Schatzkammer zu einer Reliquienkapelle, die Andacht fordert. "Sprechende Reliquiare" nennt man die Überreste von Heiligen, die in kunstvoll ausgestalteten Behältnissen ruhen, wobei die äußere Form bereits auf den Inhalt hinweist.

Da Karl IV. in diesem Jahr anlässlich seines 700. Geburtstags in einer Prager Ausstellung gefeiert wird, wurde die Krone ausnahmsweise entliehen, denn mit ihr wurde der Luxemburger einst in Aachen gekrönt. Diese prächtige, wahrscheinlich vor 1349 in Prag geschaffene Kopfzierde, die er sodann für die 1349 Karlsbüste stiftete, kehrt am Montag von ihrer Reise zurück. So ist sie noch zwei Tage in ihrem Ausnahmezustand zu erleben.

Warum kann der Blick in den offenen Schädel so erhebend sein? Weil er selbst im modernen Menschen eine übergroße Neugierde weckt. Wie wahr und echt sind diese Zeugnisse? Was können sie heute für uns bedeuten? Dieser Blick auf die Kalotte rührt uns zugleich an. Ist er doch inmitten des goldenen Glanzes und schönen Scheins ein Beweis menschlicher Existenz auf Erden. Eine Spur.

Über Jahrzehnte hat sich die moderne empirische Forschung an den Fragen nach Echtheit abgearbeitet, neben Historikern traten auch Anthropologen, Forensiker und Biologen an. In einer "Geheimaktion" hatte man 1988 den Karlsschrein im Aachener Dom öffnen lassen. Doch erst 26 Jahre später, anlässlich des 1200. Todestages Karls des Großen, gab das Domkapitel die Erkenntnisse preis. Vortragende waren zwei Koryphäen ihres Gebietes, die Professoren Joachim Schleifring und Frank Rühli, die aus medizinhistoristischer, anthropologischer und pathologischer Sicht die Untersuchungen bewerteten.

94 Knochen und Fragmente von Karls Skelett liegen, so sagt es die Tradition, in dem vergoldeten Schrein. Sie sind auf rotem Tuch säuberlich aufgereiht, mit rotem Band und Goldfäden fixiert. Das wichtigste Ergebnis machte 2014 als Schlagzeile die Runde: "Wissenschaftler halten die Knochen im Karlsschrein für echt!" Dass die Gebeine von ein und demselben Mann stammten, sagten die Forscher, und "dass es sich mit großer Wahrscheinlichkeit um das Skelett von Karl dem Großen handelt". Auch die Schädeldecke wurde im Zuge der Untersuchungen begutachtet.

Folgendes Bild von Karl setzt sich heute zusammen: Etwa 1,84 Meter soll er groß gewesen sein, dabei 78 Kilogramm gewogen haben. Heute würden wir sagen, er war schlank. Der Durchschnittsmann jener Jahre war deutlich kleiner, also überragte Karl die meisten und wäre heute 1,95 Meter groß. Das hilft vielleicht auch bei der Frage, wie Karl zu Lebzeiten angesehen wurde: als großer Mensch oder als politische Größe.

Könnte man heute Karls Krankenakte studieren, dann würde darin von einer auffälligen Verknöcherung an der Kniescheibe und am Fersenbein berichtet. Schon sein fränkischer Biograf Einhard hatte überliefert, dass der Kaiser gegen Ende seines Lebens hinkte. Und er hatte offenbar recht - moderne Forschung belegt alte Geschichtsschreibung. Einen Schlüsselbeinbruch oder eine zum Tode führende Lungenentzündung konnten die Forscher hingegen nicht bestätigen, allerdings ist dies schwer nachweisbar: Eine Lungenentzündung hinterlässt an Knochen keine Spuren.

Zurück zum Kopf. Auch die Schädeldecke wurde untersucht, alle Gebeine wurden miteinander abgeglichen. Der Aachener Mediävist und Karl-Kenner Max Kerner geht davon aus, dass "alles eins ist, dass mit höchster Wahrscheinlichkeit Gebeine und Schädeldecke von Karl dem Großen stammen". Kerner ist auf der Höhe der Forschungsergebnisse, und er beklagt das Fehlen des Rest-Schädels. "Bis heute ist über den Verbleib des Kopfes nichts bekannt", sagt er, keinerlei Notiz gebe es und das Objekt auch nicht. "Selbst wenn man den Kopf etwa anlässlich von Karls Heiligsprechung, 1165 oder früher, in einzelne Reliquienstücke aufteilte, dann würfe man den Rest des Schädels nicht einfach weg." Die Zähne, so vermutet Kerner, waren als Erstes weg, begehrt für Verehrungsstücke.

"Wir haben Gesichertes und Legendarisches", sagt Kerner. Was bleibt, ist das Bildnis. Auf dem Karl-Denar ist der Kaiser verewigt, die Vorderseite schmückt Karl als spätantiker Herrscher, die Rückseite eine kleine Kapelle. "Damals waren Münzen auch eine Darstellung des Selbstverständnisses. Karl hat auf die Münze sein Programm geschrieben: Religio christiana (christliche Religion). Was man beim Euro heute leider weniger feststellen kann."

Die Karlsbüste, ob mit oder ohne Krone, ist ein Reliquiar und als solches ein sprechendes Zeugnis der lebendigen Vorstellung von Karl dem Großen, der als Schlüsselfigur der europäischen Geschichte gilt. Heute hätten Menschen andere "Heilige" und andere "Reliquien", sagt der Historiker. "Die Personen wechseln", so Kerner lakonisch. Für junge Menschen sei ein Trikot von Fußballer Mesut Özil womöglich viel bedeutender als eine Karlsreliquie. "Sehnsucht ist ein zeitloses Phänomen nach Teilhabe und Nähe. Das Christentum ist ein Stück Altertum geworden."

(RP)
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