Serie Luther und seine Region (6) Kirche, Fürsten und Touristen

Martin Luther verbringt sein ganzes Leben im sächsisch-thüringischen Raum. Die kurfürstlich sächsischen Lande werden zum Labor der lutherischen Reformation. Heute, 500 Jahre später, sprechen Marketing-Strategen gern vom "Lutherland".

 Im 16. Jahrhundert wird Wittenberg ein wichtiges kulturelles und geistiges Zentrum Deutschlands. Vor allem, weil Kurfürst Friedrich der Weise 1502 dort die erste nichtkirchliche Universität im Reich gründet und Menschen wie Cranach, Luther und Melanchthon in die kleine Stadt an der Elbe lockt — für Luther das neue Jerusalem. Auf dem Bild Cranachs d. J. sind links die Wittenberger Stadtkirche und dahinter der Turm der Schlosskirche zu sehen; vorn eine biblische Beerdigungsszene: die Auferweckung des Jünglings von Nain (Lukas 7, 11—17), im Hintergrund die Silhouette Hamburgs. Die kann man zwar vom knapp 300 Kilometer entfernten Wittenberg nicht einmal bei sehr klarerSicht erkennen, sie war aber als Heimatbezug notwendig, da der in Wittenberg verstorbene Student Franziskus Oldehorst, zu dessen Ehren das Grabgemälde in Auftrag gegeben wurde, aus der Hansestadt stammte.

Im 16. Jahrhundert wird Wittenberg ein wichtiges kulturelles und geistiges Zentrum Deutschlands. Vor allem, weil Kurfürst Friedrich der Weise 1502 dort die erste nichtkirchliche Universität im Reich gründet und Menschen wie Cranach, Luther und Melanchthon in die kleine Stadt an der Elbe lockt — für Luther das neue Jerusalem. Auf dem Bild Cranachs d. J. sind links die Wittenberger Stadtkirche und dahinter der Turm der Schlosskirche zu sehen; vorn eine biblische Beerdigungsszene: die Auferweckung des Jünglings von Nain (Lukas 7, 11—17), im Hintergrund die Silhouette Hamburgs. Die kann man zwar vom knapp 300 Kilometer entfernten Wittenberg nicht einmal bei sehr klarerSicht erkennen, sie war aber als Heimatbezug notwendig, da der in Wittenberg verstorbene Student Franziskus Oldehorst, zu dessen Ehren das Grabgemälde in Auftrag gegeben wurde, aus der Hansestadt stammte.

Foto: akg-images

Über seine Wirkungsstätte macht sich Martin Luther wenig Illusionen. Wittenberg liege "am Rande der Kultur", sagt der Reformator 1532 in einer Tischrede. Und er hat recht, zumindest auf den ersten Blick - Wittenberg ist im ersten Drittel des 16. Jahrhunderts ein Städtchen von 2000 Seelen im nordöstlichen Winkel des Kurfürstentums Sachsen. Umso erstaunlicher, dass dieser Flecken zum Brennpunkt einer weltgeschichtlichen Umwälzung wird - Luther selbst vergleicht Wittenberg nur 13 Jahre nach jener Tischrede gar mit Jerusalem. Dabei ist er zeit seines Lebens nur für einzelne Reisen, etwa nach Rom, aus seiner Heimat herausgekommen.

Warum also gerade Wittenberg? Man muss schon genauer hinschauen, einen zweiten Blick werfen. Dann zeigt sich: Luther und seine Lehre finden in Kursachsen günstige Bedingungen vor; ohnehin kommt die Reformation nicht aus dem Nichts, sondern speist sich aus Entwicklungen des späten Mittelalters. Kursachsen wird schließlich zum Reformationslabor, zum Prototypen des protestantischen Staats.

Aber der Reihe nach. So wie Martin Luther einer Aufsteigerfamilie entstammt (der Vater erfolgreicher Hüttenmeister in Mansfeld, die Mutter eine Eisenacher Bürgertochter) und als Jurastudent selbst ein Aufsteiger ist, so ist seine Heimat im Harzvorland eine Boomregion - der Silberbergbau ist im Aufschwung. Luther wird zudem in eine Zeit geboren, in der sich die vielen deutschen Landesherren immer mehr vom Kaisertum emanzipieren. Urbanisierung bestimmt die Zeit und, wie es der Kirchenhistoriker Thomas Kaufmann nennt, "staatliche Verdichtungsbestrebungen einzelner Fürsten": der Versuch, die Herrschaft nach innen auszubauen.

Einer dieser Fürsten ist der Herr von Kursachsen, Friedrich III., genannt der Weise, ein Wettiner. Er macht Wittenberg zur Residenzstadt, 1502 gründet er dort eine Universität. So sehr "am Rande der Kultur" ist Wittenberg also doch nicht; nicht zuletzt sind es die Studenten, die zur Verbreitung der Luther'schen Lehren beitragen.

Auch Friedrich der Weise hat so seine Ambitionen. Die Kaiserwürde hat er zwar nach dem Tod Maximilians 1519 ausgeschlagen; statt seiner ist Maximilians Enkel, der Habsburger Karl, gewählt worden. Friedrich aber hat ihm eine "Wahlkapitulation" abgerungen, die die Fürsten-Privilegien bestätigt und den Reichsständen sogar eine Art Mitregierung sichern soll. Dieser Friedrich nimmt 1521 den geächteten, aber vom Volk gefeierten Luther auf der Wartburg in seinen Schutz, stellt sich also gegen Karl - nicht eben ein Hinweis auf Selbstzweifel. Schließlich entscheidet sich in Kursachsen, ob die katholische Religion weiter das riesige Habsburger-Reich zusammenhalten kann.

Ebenso wie Luthers theologischer Erfolg. Denn die reformatorischen Lehren sind nicht nur für das aufsteigende städtische Bürgertum interessant und für ehrgeizige Fürsten, sondern auch für viele Bauern. Sie zählen zu den Verlierern der voranschreitenden Modernisierung, weil Absatz und Ertrag mit der steigenden Abgabenlast nicht Schritt halten. 1524 brechen in Süddeutschland Aufstände aus. In Sachsen setzt sich der charismatische Priester Thomas Müntzer an die Spitze der Bewegung. Er will das Reich Gottes mit Gewalt herbeiführen. In Frankenhausen, praktisch vor Luthers Haustür, vernichten die Fürsten am 15. Mai 1525 das Heer der Bauern; Müntzer wird geköpft. Geistig munitioniert wurden die Sieger von Luther - "darum soll hier zerschmeißen, würgen und stechen, heimlich oder öffentlich, wer da kann", hat er neun Tage vor der Schlacht geschrieben. Luther sieht die Fürsten durchaus kritisch - aber die Obrigkeit ist für ihn gottgegeben, also hinzunehmen.

In Frankenhausen scheitert die apokalyptisch-revolutionäre Reformation. Es ist der Moment, da Luthers Theologie, wie der Historiker Michael Salewski geschrieben hat, "in die tägliche Politik hinabgezogen" wird. Das Bündnis zwischen Reformation und Staat trägt nun Früchte für die Landesherren, die sich die Kirche gefügig machen.

In Kursachsen sieht das so aus: Ab 1528 reisen Theologen und Juristen durch die Lande und überprüfen die Kirchenzucht vor Ort. Begutachtet werden Pfarrer und Gläubige gleichermaßen; Luther selbst legt sich etwa mit dem Wittenberger Amtmann Hans Metzsch an, den er "der Hurerei und Buberei mit Weibern" bezichtigt und exkommuniziert. Luther weist Kurfürst Johann 1528 die Rolle eines "Notbischofs" zu - Kursachsen ist das Modell für das evangelisch-landeskirchliche Regiment.

Den Kurfürsten bringt ihr Eintreten für den neuen Glauben übrigens kein Glück: 1547, ein Jahr nach Luthers Tod in seiner Geburtsstadt Eisleben, besiegt der Kaiser die protestantischen Landesherren; Kurfürst Johann Friedrich von Sachsen, Neffe Friedrichs des Weisen, geht in Gefangenschaft. Seine Kurwürde, also das Recht, den römisch-deutschen König mitzuwählen, geht auf den anderen, in Dresden residierenden Zweig der Wettiner über.

Heute ist das alte Kursachsen wieder ein Labor. Es verteilt sich auf Thüringen, Sachsen und Sachsen-Anhalt, die ihr Erbe gern unter dem Titel "Lutherland" vermarkten. Eisleben und Wittenberg nennen sich offiziell Lutherstadt. Ein Labor ist Lutherland vor allem, weil hier der Spagat gelingen soll, in einer weithin entkirchlichten Region - nirgends in Europa, ergab 2012 eine US-Studie, glauben so wenige Menschen an Gott wie in Ostdeutschland - die Erinnerung an eine kirchlich-politische Zeitwende zu präsentieren, ohne in plumpes Marketing abzurutschen. Gelingen soll das, typisch deutsch, durch einen Mix kirchlicher und staatlicher Planung. Es gibt einen gemeinsamen Verein der Evangelischen Kirche in Deutschland und des Evangelischen Kirchentags, aber auch eine staatliche Geschäftsstelle, die Bund und sieben Länder tragen.

Bodo Ramelow, engagierter Protestant und erster von der Linkspartei gestellter Ministerpräsident der Bundesrepublik, nämlich in Thüringen, stellt die touristische Dimension des Jubiläums gleichberechtigt neben die religiöse und die wissenschaftliche. Zur kirchlich-staatlich gemischten Organisation sagt er: "In Teilen überschneiden sich unsere Ziele. Wie andere vergleichbare Akteure erhalten die Kirchen natürlich die Unterstützung des Freistaats." Eine "unangemessene Bevorzugung" könne er nicht feststellen. Kritiker, auch aus Ramelows eigener Partei, tun das durchaus und meinen Reste jener Allianz von Thron und Altar zu erkennen, deren Grundstein die Fürsten vor 500 Jahren legten. Auch Ramelows Kollege in Sachsen-Anhalt, Reiner Haseloff (CDU), hat sich skeptisch zur staatlichen Finanzierung kirchlicher Großereignisse geäußert.

Apropos Thron und Altar: Ende Mai findet in Berlin und Wittenberg der Evangelische Kirchentag statt. Das heißt: Er findet in Berlin statt; für Wittenberg sind nur ein Camp in den Elbwiesen, Abschlussgottesdienst, "Reformationspicknick" und ein Konzert vorgesehen. Eigentlich, so lautet eine Version, wollte man für den Gottesdienst dort Michelle Obama gewinnen. Nun kommt ihr Mann Barack, aber nach Berlin, zu einer Diskussion mit der Bundeskanzlerin. Man könnte darin protestantische Wahlkampfhilfe für Angela Merkel sehen - mitten in der Hauptstadt statt "am Rande der Kultur".

Zu schade, dass wir nicht wissen, was Luther dazu sagen würde.

(fvo)
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