Philosophen (11) Adorno — Prophet der neuen Linken

Düsseldorf (RP). Im Exil verfasst Theodor W. Adorno seine Urschrift "Minima Moralia" – eine Reaktion auf die Nazizeit und Abrechnung mit der europäischen Zivilisation. Nach dem Zweiten Weltkrieg kehrt er zurück nach Frankfurt und betreibt am Institut für Sozialforschung weiter kritische Gesellschaftstheorie. Die "Frankfurter Schule" findet bei seinen Studenten großes Echo.

Philosophen (11): Adorno — Prophet der neuen Linken
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Düsseldorf (RP). Im Exil verfasst Theodor W. Adorno seine Urschrift "Minima Moralia" — eine Reaktion auf die Nazizeit und Abrechnung mit der europäischen Zivilisation. Nach dem Zweiten Weltkrieg kehrt er zurück nach Frankfurt und betreibt am Institut für Sozialforschung weiter kritische Gesellschaftstheorie. Die "Frankfurter Schule" findet bei seinen Studenten großes Echo.

Kein Prophet ohne Berg. Für Theodor W. Adorno ist es ein Berg in den Walliser Alpen, den er liebt und sogar in seiner "Ästhetischen Theorie" würdigt: "In Zermatt präsentiert sich das Matterhorn, Kinderbild des absoluten Bergs, wie wenn er der einzige Berg auf der ganzen Welt wäre." Immer wieder zieht es den Soziologen, Philosophen, Musiktheoretiker, Komponisten und Autor dorthin. Ein Sehnsuchtsort für den Gelehrten, der nach dem Zweiten Weltkrieg am Frankfurter Institut für Sozialforschung einer der wichtigsten Köpfe der "Frankfurter Schule" werden soll. Seine Vorlesungen sind Andachten, seine Studenten gleichen Jüngern, er wird zum Propheten der neuen Linken. Nach Kierkegaard, Hegel, Kant und Marx greift er das Bewusstsein des Nachkriegsbürgertums scharf an — und findet großes Echo. Vor allem in der Studentenbewegung.

Selbst als diese Bewegung radikale Formen annimmt, sich gegen Adorno als Theoretiker richtet und seine Studenten ihn öffentlich demütigen — Studentinnen stürmen das Katheder und zeigen Adorno ihre nackten Brüste —, ist es der Schweizer Berg, bei dem der nun unverstandene Prophet Zuflucht sucht. Vielleicht ist die Anziehung des Matterhorns auch deshalb so groß, weil das markante Massiv durch die Wucht der großen eiszeitlichen Gletscher geformt wurde. Denn auch in Adornos komplexen Denkgebäuden fegt oft eisiger Wind. Seine "Negative Dialektik" (1966) ist, wie er formuliert, "die Eiswüste der Abstraktion, durch die man hindurch muss, um ins gelobte Land des Konkreten zu gelangen". Die Sehnsucht danach ist selbst bei jenem hochbegabten Theoretiker angelegt, dessen Oeuvre bis heute als sperrig gilt und dessen Horror vor Systematik und verbindlicher Methodologie gerade Teil seines intellektuellen Profils ist. Seine "Ästhetische Theorie" ist ihm Verheißung: sein geistiges Matterhorn — das gelobte Land des Konkreten. Das Ästhetische, das Kunstwerk — sofern es kompromisslos seinem Formgesetz folgt — birgt für ihn ein Glücksversprechen, dem er sich nach dem Durchschreiten der großen Eiswüste nun öffnet.

Doch bevor es dazu kommen soll, gilt es für den Philosophen kalte Jahre zu überstehen. 1903 wird er in Frankfurt am Main als Sohn eines jüdischen Weingroßhändlers und einer erfolgreichen Sängerin korsisch-italienischer Herkunft geboren. Theodor Wiesengrund Adorno ist genialisch veranlagt: Abitur mit 17, Promotion mit 20, Habilitation über Kierkegaard mit 28 Jahren. Die Liebe zur Musik führt ihn zwischendurch nach Wien, wo er bei Alban Berg Komposition studiert, eigene Werke verfasst, Musikkritiken schreibt und in die Kreise von Arnold Schönberg und Anton von Webern eingeführt wird. Doch Adorno ist Teil einer jüdischen Intelligenz, der es nichts hilft, dass sie sich von der religiösen Tradition der Juden gelöst und der deutschen Wissenschaft, Literatur und Musik zugewandt hat. Unter den zunehmenden Repressionen des Nazi-Regimes findet sich eine Notgemeinschaft von Heimatlosen zusammen. Um zu überleben, bleibt für Adorno und seine Wegbegleiter Max Horkheimer, Walter Benjamin und Ernst Bloch nur das Exil. Adorno, der nach seiner Rückkehr aus Wien bereits in den 30er Jahren als Dozent für Philosophie an der Universität Frankfurt lehrt, siedelt erst nach langem Zögern 1938 mit Ehefrau Gretel in die USA über.

Dort entsteht eines seiner persönlichsten Bücher und eine Urschrift aller späteren Werke zugleich: "Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben". Es ist eine unweigerliche Reaktion auf die Nazizeit, bei der er die reine Vernunft ad absurdum führt. In seinen Aphorismen zeichnet er eine Verhängnisgeschichte der Vernunft und kritisiert die Techniken der Kulturindustrie, die sich etwa auf das reine "Tauschprinzip" beschränkt. Zugleich entlarvt er sein Alltagsleben in Kalifornien als Entfremdung des Individuums — bestimmt von Erfindungen, die einem Rückfall in die Barbarei gleichen. Dazu zählen etwa Türknauf, Room-Service oder Geschenkartikel.

Adorno bezieht fortan die Rolle des Außenstehenden, des Exzentrikers, der das Absurde heranziehen muss, um den Wahnsinn — die Zerstörung der deutsch-jüdischen Kultur — auszuhalten. Sätze wie "Es gibt kein richtiges Leben im falschen" oder wenig später "Nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch" werden sprichwörtlich. Es sind Musterbeispiele für Adornos Verfahren, Wahrheit aus Übertreibung zu gewinnen. Denn nur aus der schieren Übersteigerung eines Gedankens bis zu dem Punkt, an dem er kaum noch denkbar ist, könne sich sein Kern ergründen lassen. Philosophie nach altem Wertmaßstab sei fortan nicht mehr möglich. Trotzdem wird er sein Diktum über Lyrik nach Auschwitz einige Jahre später zurücknehmen. Vielleicht der einzige Satz, den er jemals korrigierte.

Der emigrierte Jude ist damit nicht nur einer der Ersten, der den Kulturbruch Auschwitz deutlich macht. Seine Schriften entstehen auch aus der Perspektive eines leidenden Individuums, dessen einzige Chance auf Weiterleben sich auf den Widerstand gegen die repressive Tendenz autoritärer Systeme gründet. Einen Verbündeten findet er in seinem Freund und Kollegen Horkheimer, mit dem er noch in Amerika die "Dialektik der Aufklärung" verfasst. Es ist eine ideologiekritische Betrachtung der Krise der europäischen Zivilisation. Darin deklarieren sie die "Selbstzerstörung der Aufklärung" anhand von Faschismus, Antisemitismus, Stalinismus und Zweitem Weltkrieg.

Nach Adorno und Horkheimer zwingt die Aufklärung, die sich rein auf die instrumentelle Vernunft beschränkt, den Menschen unter ein neues, zwanghafteres Kollektiv. Einen Ausweg bietet demnach nur die radikale "Selbstaufklärung der Aufklärung". Nur so sei die Rettung der Subjektivität möglich. Nur durch ein Mehr an Objekt könne sich das Subjekt erweitern. Hegels Gedanken führen sie in diesem Sinne fort als eine korrigierende "Dialektik des Besonderen", die im Ganzen das Unwahre erkennt. Jedes Menschenbild ist demnach Ideologie, nur das negative nicht. Denn Denken wurde zuvor in der Gesellschaft durch die eifrige Suche nach Identität zum Komplizen der Herrschaft.

Mit diesem Gedankengut und mit den Bausteinen einer weiterentwickelten "Kritischen Theorie" kehren Adorno und Horkheimer nach dem Krieg zurück und leisten intellektuelle Aufbauarbeit. Die alte Wirkstätte wird zur neuen. Unter der Leitung Horkheimers wird am Institut für Soziologie der Goethe-Universität die "Frankfurter Schule" vorangetrieben. Zu den wichtigen Vertretern zählen neben Adorno auch Erich Fromm, Friedrich Pollock, Leo Löwenthal und Herbert Marcuse. Es sind Neomarxisten und Freudianer, die Epoche machen, indem sie den bisherigen Epochenbegriff zerstören. Vermittelt wird ihre Grundlagenkritik mit empirischen Studien. Doch in Abgrenzung zu einer weiteren relevanten Strömung, dem "Kritischen Rationalismus" (bekannte Vertreter: Karl Popper und Hans Albert), will die "Frankfurter Schule" die der Gesellschaft zugrunde liegende Totalität untersuchen, die auch die Missstände verursache. Die Methode des "Kritischen Rationalismus" ist hingegen, einzelne gesellschaftliche Probleme zu lösen und damit Missstände zu beseitigen.

Aus diesen Gegenpositionen entwickelt sich der "Positivismusstreit", der sich 1961 bei einer Soziologen-Tagung in Tübingen entzündet und an der auch Adorno und Popper teilnehmen. Weil die "Frankfurter Schule" Gesellschaft als Wesenslehre begreift, kann auch nicht von einem einheitlich-profilierten Erscheinungsbild des Instituts die Rede sein. Die Ansätze der "Kritischen Theorie" spalten sich in die Disziplinen Philosophie, Psychologie, Sozialforschung, Ästhetik und Kunstkritik.

Ebenfalls schillernd und nicht greifbar scheint Adorno als hellstes Bewusstseinslicht über allem zu schweben. Für ihn wird die Arbeit in Frankfurt zur Erfolgsgeschichte: Keine geisteswissenschaftliche Seminararbeit ohne Adorno-Zitat, das den Anschein von Tiefe verleiht. Auch der Professor selbst ist überall präsent, durch seine Publikationen — Suhrkamp wird sein Hausverlag — ebenso wie durch Auftritte im Radio, im Fernsehen oder durch Beiträge in den Zeitungen. Und verkleidet als Napoleon etwa erobert er beim Philosophenball auch die ein oder andere Studentin. Zur Liebe gesellt sich bei Adorno aber auch Kabale. Am Institut und in seiner Arbeit ist "Teddie" — wie ihn Freunde nennen — nicht nur streitbar, sondern auch Intrigant, ein Taktierer in der Karriere, was seine Briefwechsel mit Horkheimer belegen. Kritik erntet der Kritiker Adorno reichlich: Er sei nichts weiter als ein Kulturaristokrat, dessen Ärger auf die Massenkultur sich in der Hauptsache darauf beziehe, dass die Mehrheit lieber Beatles statt Schönberg höre oder Comics statt Balzac lese.

Trotzdem bleibt Adorno in Mode — auch weil er ein Spieler ist. Ein Akrobat, der in Vorlesungen zum Vorturner seiner Gedanken wird und das Lebendige, Spontane selbst vollführt, an dem ihm für ein neues aufgeklärtes Bewusstsein so gelegen ist. So begeistert er die Jungen und wird zum Wegbereiter jener studentischen Revolte, die er wegen ihrer Gewalt dann ablehnen wird. In einem "Spiegel"-Interview 1969 betont Adorno, er habe zwar ein theoretisches Modell aufgestellt, dabei aber nicht ahnen können, dass Leute es mit Molotow-Cocktails verwirklichen wollten.

So scheint es fast schicksalhaft, dass er am Ende wieder zum Alleingänger wird und in einem Brief an Horkheimer eine Formel wiederholt, die die beiden Heimatlosen oft schon tröstete: "Wir haben buchstäblich niemanden als uns selber." Was Adorno bleibt, ist die Ästhetik, die er dem Identitätszwang des Systems in seinem letzten, unvollendeten Werk, "Ästhetische Theorie", entgegensetzt. Das Ideale, Erhabene ist demnach, wenn überhaupt, nur in der Kunst zu finden. Denn zuerst und zuletzt ist Adorno weder Philosoph noch Soziologe, sondern Künstler und Kunsttheoretiker.

In diesem Sinne hat er sich in seinem "beschädigten Leben" etwas Kindliches bewahren können. Der naive, unverfälschte Blick auf das geliebte Matterhorn wird auch sein letzter sein: Kurz nach jenen Attacken auf ihn, am 6. August 1969, ereilt den 65-jährigen Theodor Wiesengrund Adorno in Zermatt der Herztod.

(RP)
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